Kulturelle Aktion Marburg e.V.
Strömungen
Am Grün 30
D-35037 Marburg

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Theatercompagnie Tagträumer

Die Midaq-Gasse

1996 06 01

Die Gasse ging nicht gerecht mit ihren Menschen um. Nicht der, der sie am meisten liebte, wurde auch am meisten belohnt. Manchmal lächelte sie gerade dem zu, der sie mißfällig anschaute, und blickte den mißfällig an, der ihr zulächelte. "Die Midaq-Gasse ist Schauplatz des schönsten Romans von Naguib Mahfous. Er beschreibt das Leben der kleinen Kairoer Altstadtgasse in einer Zeit des Umbruchs. Onkel Kamil, der Bonbonverkäufer. Salim Alwan, der Chef einer Handelsfirma, der sich an aphrodisierenden Speisen labt. Meister Kirscha, der Kaffeehausbesitzer mit Kragen und Krawatte, ein Sklave des Haschisch und voll schwuler Lust. Der alte Dichter, den keiner mehr hören will, seit es das Radio gibt. Ja, sogar der düstere Zita, der aus Menschen Krüppel macht, damit sie besser betteln können. Sie alle spüren die neue Zeit, deren Rhythmus die Stadt erobert; jeder sucht seinen eigenen Weg in die Zukunft. So auch Hamida, die hinter schwarz vergittertem Fenster ihr Haar kämmt, während Abbas al-Hilu, der blasse Friseur, in seinem Salon nach ihr schmachtet. Ihn treibt die Liebe hinaus in die Welt, um Geld zu verdienen. Doch die Angebetete hat Träume, die weiter reichen als der Hafen der Ehe. Beherrscht von dem unbändigen Wunsch nach Macht und Reichtum bricht sie aus und wirft sich einem Zuhälter in die Arme. Umm Hamida, Chronistin aller Nachrichten und wandelndes Lexikon aller Missetaten, hat täglich mehr zu erzählen über die Geheimnisse dieser Gasse.

Veranst. : Strömungen, Marburger Theaterwerkstatt

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Moshe Zuckermann, Jochen Müller, Omar Kamil, Wilfried von Bredow (Moderation)

Israel und Palästina - wie weiter?

2002 11 01

Israel und Palästina - wie weiter?" - so lautete der Titel der Diskussionsrunde mit Experten und Betroffenen, die am Freitag im historischen Marburger Rathaussaal stattfand. Rund hundert Zuhörer kamen zu der Diskussionsrunde, darunter auch einige jüdische und palästinensische Interessierte aus Marburg und Umgebung, zu der die "Hessische Gesellschaft für Demokratie und Ökologie" (HGDÖ) und die Gruppe "Strömungen" eingeladen hatten. Der Marburger Politologe Professor Wilfried von Bredow leitete ebenso versiert wie engagiert das Gespräch. Dass sich trotz des hitzigen Themas eine sachliche Diskussion entwickelte, hatte er aber auch dem kritisch-liberalen Auftreten der Redner zu verdanken: Moshe Zuckermann als israelischer und Omar Kamil als palästinensischer Vertreter sowie der Freiburger Islamwissenschaftler Jochen Müller. Zuckermann, Professor in Tel Aviv, umriss zu Beginn kritische die zionistische, also "rechte" israelische Sicht der Dinge. Es liege auf der Hand, dass ohne vollständige Rückgabe de besetzten Gebiete und Schaffung eines palästinensischen Staates das Stocken der politischen Lösungsversuche nicht aufzubrechen sei. Genau einen solchen Aufbruch aber empfänden die Israelis als tiefe Bedrohung ihrer Existenz. Um die"Apokalypse" für Israel zu verhindern, werde die Besatzung als unabänderbar erklärt, und den rechten Hardlinern falle nur ein Lösung ein:" Durchhalten mit Gewalt, und das seit 1967!". Diese Angst zu überwinden ist auch ein Anliegen Jochen Müllers, der als Nichtbetroffener stets versuchte, die Traumata beider Seiten verständlich zu machen. Wenn auch der größte Teil des arabischen Antisemitismus' auf die frustrierenden Lebensumstände vieler Araber zurückzuführen sei, so müsse man doch Israel zeigen, dass man sein Gefühl des Bedrohtseins ernst nehme, wolle man es aus seiner Einigelung herauslocken. Omar Kamil, Gründer der arabisch-israelischen Friedensaktion "Beainona" aus Leipzig, distanzierte sich von Hardlinern beider Seiten. Das Existenzrecht Israels könne in diesen Zeiten nicht mehr angezweifelt werden. Um von den arabischen Staaten aber voll akzeptiert zu werden, dürfte es sich aber nicht weiterhin ganz europäisch geben, sondern müsste den Dialog mit den Nachbarstaaten suchen. "Israel ist heute Realität. Aber es liegt auch in Arabien und muß auf Arabien eingehen", sagte Kamil. Die palästinensische Seite habe bereits mit ihrem Ja zum Vertrag von Oslo weitreichende Veränderungen akzeptiert, Israel selbst könne sich nicht weiter gegen Zugeständnisse sperren. In vielen Punkten waren sich alle Redner einig. Die Gewalt im Nahen Osten kann keine Lösung schaffen, und so müsse man sich früher oder später wieder am Verhandlungstische treffen. Antisemitismus sei auch im arabischen Raum stark vertreten, aber mehr als Ausdruch sozialer Frustration als Ausdruck jahrhundertealter Feindschaft und könne so nicht stets als Beweis israelischer Existenzbedrohung herhalten. Europa wird nach einstimmiger Meinung keine tragende Rolle in der Vermittlung zwischen den Parteien spielen können. Zu verschieden und belastet sei das jeweilige Verhältnis der europäischen Partner zum Nahen Osten und seiner Geschichte. "Europa hat bisher versäumt, friedenswillige Kräfte stärker zu machen", fasste Müller die bisherigen europäischen Aktionen zusammen. Auch Kamil forderte, verstärkt zivile, demokratische Institutionen zu fördern. Man habe mit Arafat auf den falschen Mann gesetzt und von Europa aus zugesehen, wie er nach und nach die vorhandenen demokratischen Strukturen abbaute. Deren Aufbau aber werde heute von den europäischen Geldgebern gefordert, und diese Unaufmerksamkeiten kommen natürlich bei den Empfängern nicht gerade gut an. Entscheidende Veränderungen müssten aber vorrangig in den Köpfen der Menschen vor Ort ihren Anfang nehmen, das ließ sich als Quintessenz der Veranstaltung herauslesen. Ein jeder müsse bei sich selbst anfangen, wie Zuckermann mit seiner Antwort auf den Einwurf einer Zuhörerin auf den Punkt brachte: "Um Verhältnisse zu ändern, muss man Mythen abschaffen, auch jüdische Mythen. " (Clemens Niedenthal, Oberhessische Presse, 04. 11. 2002) Einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten kann es nur geben, wenn sich Israel aus den besetzten Gebieten zurückzieht" - das meinte Moshe Zuckermann, Leiter des Instituts für Deutsche Geschichte an der Universität Tel-Aviv bei einer Diskussionsrunde zum Thema "Israel und Palästina - wie weiter?" im Marburger Rathaus. Auf dem Podium saßen außerdem der Politologe Omar Kamil von der Universität Leipzig und der Islamwissenschaftler und freie Journalist Jochen Müller aus Freiburg. Moderiert wurde die Runde von dem Marburger Politologen Wilfried von Bredow. Da die Diskussion innerhalb der Veranstaltungsreihe "Die neue Rolle Deutschlands in der Welt" stattfand, sollten vor allem auch Perspektiven der deutschen Außenpolitik zur Sprache kommen. Zunächst gab Zuckermann sein Statement ab. "Die israelische Politik stagniert; nur durch die Rückgabe der besetzten Gebiete, einen völligen Siedlungsstopp und Klärung der Jerusalem-Frage kann ein Frieden möglich sein", benannte er die Voraussetzungen für einen Friedensschluss. Der Rückzug aus den Gebieten beschwöre zwar die Gefahr eines innerjüdischen Bürgerkrieges, sei aber dennoch unumgänglich. Deutschland könne in diesem Konflikt nur in einer Vermittlerrolle tätig werden. Die bisherigen Versuche der Einflussnahme seien vergleichbar mit "einer Krebsgeschwürbehandlung mit Aspirin". Jochen Müller wies anschließend in seinem Vortrag auf die verstärkten anitisemitischen Kräfte in den arabischen Nachbarstaaten Israels hin. Zwar hätten diese mehr eine Ventilfunktion, um von eigenen Problemen abzulenken, dennoch sei die Vorstellung eines von Arafat beherrschten Palästinastaates für viele Israelis angsterfüllend. "Europa sollte mehr Einfluss auf die moderaten Kräfte in den autonomen palästinensisschen Gebieten nehmen", beschrieb Müller die Möglichkeiten der Europäischen Union. Ähnlich wie Zuckermann plädierte auch Müller für die Rückgabe der besetzten Gebiete, wies aber auch darauf hin, dass die aus Israel vertriebenen Araber auf ihr Rückkehrrecht verzichten müssten. Nach Ansicht von Omar Kamil haben die Araber ihren Preis für den Frieden längst gezahlt. Schließlich hätten sie durch das "Oslo-Abkommen" von 1993 auf 75 Prozent ihres ursprünglichen Staatsgebietes verzichtet. Die Rechtfertigung eines Staates Israel aus religiösen Gründen oder begründet durch den Holocaust lehnte er ab. "Es ist nicht zu verstehen, warum die Wiedergutmachung einer europäischen, speziell deutschen Katastrophe, im Nahen Osten erfolgen musste", kritisierte er die Staatsgründung Israels auf palästinensischem Gebiet. Dennoch leugne er das Existenzrecht Israels nicht, es ein aber nur durch die reale Situation zu rechtfertigen. Die Rolle der EU in diesem Kontext sei sehr unglücklich gewesen, betonte Kamil. Demokratische Strukturen in den frühen neunziger Jahren seien durch die systematische Unterstützung Arafats zerstört wordenm deswegen sei es unangemessen, nun diese Strukturen in den autonomen Gebieten zu fordern. Für Selbstmordattentate gebe es keine Rechtfertigung, der Terror werde aber mit der Rückgabe der besetzten Gebiete ein Ende haben, so Kamil. Zuckermann brachte am Ende die Situation noch einmal auf den Punkt: "Es gibt keine militärische Lösung dieses politischen Konflikts. Die israelische Regierung muß aufhören, die real existierenden Ängste zu instrumentalisieren und den Antisemitismus als politische Rechtfertigung für Gewaltaktionen zu nutzen. " Nach der Öffnung des Podiums für Fragen aus dem Zuschauerraum entwickelte sich eine emotionsgeladene, aber kaum noch sachliche Diskussion. Es wurde deutlich, daß selbst in Marburg verhärtete Fronten aufeinander treffen. (Marburger Neue Zeitung, 04. 11. 2002)

Veranst. : Strömungen, HGDÖ

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Renate Wicke, Jutta Vogelsänger, Jens Rosteck

Zwei auf einer Insel - Lotte Lenya und Kurt Weill, eine Doppelbiographie

2000 03 02

Anschaulich und lebhaft schilderte der Autor Jens Rosteck in einer Mixtur aus musikalischer Darbietung und biographischen Anekdoten die gemeinsamen Wege und Abwege des Künstlerpaars. Dem Autor gelang es, die erste Doppelbiographie des Paares mit dem Titel "Zwei auf einer Insel" zu verfassen. Begleitet und unterstützt wurde Rosteck dabei von dem Berliner Duo "Toscas Töchter". Besonders eindrucksvoll verkörperte die Sängerin Renate Wicke mit ihrer ausdrucksstarken Stimme und der gekonnten Gestik die singende Lenya. Kurt Weill, der in diesen Tagen 100 Jahre alt geworden wäre, galt in den 20er Jahren als unkonventioneller Komponist, der mit der klassischen Musik brach. Berühmt wurde er durch die Vertonung von Brecht-Werken - als Beispiele seien die "Seeräuber-Jenny" und die Moritat von Mackie Messer genannt -, komponierte am Broadway aber auch namhafte Musicalmelodien. Man bezeichnete ihn oftmals als kompromißloses Arbeitstier; er erkämpfte sich mit ausdauernder Disziplin den weltweiten Erfolg. Seine Muse und Ehefrau Lotte Lenya faszinierte das Publikum mit ihrer voluminösen, wandlungsfähigen Stimme und ihrer unbeschwerten, charmanten Art. Rosteck skizziert die euphorische Verliebtheitsphase der beiden, aber auch die schleichenden Veränderungen, die sich in der Beziehung auftaten. Kurt Weill und Lotte Lenya lebten trotz charakterlicher und künstlerischer Unterschiede ein "Inseldasein", das sie gegen die äußeren Schwierigkeiten unverwundbar erscheinen ließ. Mit der musikalischen Lesung bewies Jens Rosteck einen sehr guten und feinen Blick für das Detail und beleuchtete interessant die Zwischentöne in der Beziehung zwischen Kurt Weill und Lotte Lenya. Bedauerlicherweise beschränkte sich die Lesung überwiegend auf die Liebesbeziehung des Künstlerpaares und auf das künstlerische Wirken der beiden. Die politischen Mißstände jener Zeit wurden weitgehend ausgeklammert und blieben unbeachtet. (Marburger Neue Zeitung, 04. 03. 2000)

Veranst. : Strömungen

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Peter Schmidt-Deguelle, Hans Leyendecker, Michael Rutschky, Thomas Noetzel (Moderation)

Hysterische Gesellschaft?

2001 11 02

Die Menschen sind klüger, als die Politiker und Journalisten glauben!" Diese tröstliche Erkenntnis warf Klaus-Peter Schmidt-Deguelle, Politikberater aus Berlin, bei der Diskussion zum Thema "Hysterische Gesellschaft? Zum Verhältnis von Medien und Politik" in die Runde. Dennoch: Woher kommt die Hysterie, die jetzt zum Beispiel das Thema Milzbrand auslöst? Ist sie Amüsement, das sich die hysterische Gesellschaft selber schafft? Das fragte der Marburger Politikwissenschaftler Thomas Noetzel, der die Diskussion leitete. Welchen Einfluß hat sie auf die Politik, und wer macht heute eigentlich Politik? Die Politiker oder die Medien?Leyendecker führte die Hysterie auf die Quotenjagd - die Konkurrenz zwischen den einzelnen Medien - zurück. Heute würden Nachrichten viel schneller verbreitet - und: "Die Menschen haben gerne Endzeitstimmung". Daß die Politik sich durch diese Veränderung in den Medien ebenfalls verändert hat, räumte Schmidt-Deguelle ein:"Politiker müssen genau aussuchen, welche Botschaft man in welchem Medium an den Wähler bringt". Außerdem fehle der Politik durch die Schnellebigkeit häufig die Zeit zum Nachdenken. Schmidt-Deguelle kritisierte aber auch den Journalismus: Die Leute dort seien heute schlecht ausgebildet und die Bedeutung der Recherche nehme ab. Auf einen simplen Punkt führte Michael Rutschky die Hysterie zurück: "Wunder und Schrecken sind die älteste Zeitung. " Dies sei eine Quelle, die von Zeitungen immer wieder angezapft werde. Und die Privatsender erreichten eben Leute, die meist nicht mit der "bürgerlichen" Zeitung aufgewachsen seien, Unangenehm werde die Situation für Gruppen, die gerade vom öffentlichen Meinungsbild betroffen seien. Er räumte ein, daß die entstehende Panik für die Verantwortlichen einen extremen Handlungsdruck erzeuge. Im weiteren Verlauf der Diskussion wurden einzelne Fallbeispiele diskutiert, von denen es ja auch in letzter Zeit mehr als genug gab. Und natürlich stand auch hier die Lage seit dem 11. September diesen Jahres oben an. Aber auch andere Themen wurden angeschnitten, so zum Beispiel der Fall Sebnitz, in dem es um die Frage einer rechtsradikalen Straftat ging, die im nachhinein ausgeschlossen werden konnte. Dieses Thema bezeichnete Leyendeckerf als "GAU des Journalismus". Schmidt-Deguelle ging sogar noch weiter uns sprach von einem "GAU von Politik und Medien". Michael Rutschky fasste die heiße Diskussion zusammen, als er feststellte, die Menschen hätten immer zwischen Angst und Hosianna gelebt. Verstärkt werde heute alles dadurch, daß wir an jedem Ort der Welt alles wissen können. Ein einfaches Handlungsprinzip für die heutige Zeit formulierte Hans Leyendecker: Wenn man ruhig beobachtet, sieht man die Übertreibung und kann mit gesundem Menschenverstand beurteilen; wenn man alles nicht so schrecklich ernst nimmt, kommt man mit der Wirklichkeit klar. Und dank Schmidt-Deguelle wissen wir ja: "Die Menschen sind klüger als die Politiker und Journalisten glauben. . . "(Marburger Neue Zeitung, 05. 11. 2001)

Veranst. : Strömungen, Aktive Fachschaft Soziologie der Phillips-Universität

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Klaus Theweleit

Ghosts

1999 02 03

Mit der Fixierung auf das Jahr 68 einerseits, dem als Kulminationspunkt der Flower-Power-Bewegung Jimi Hendrix und Woodstock unmittelbar zugeordnet werden (in einem zweiten Anlauf vielleicht noch: Vietnam und die Mao-Bibel), und dem Jahr 1977 andererseits (politisch: dem Deutschen Herbst), zu dem einem meist nicht mehr einfällt als Mordgeschichten, Fahndungsphotos sowie Bildunterschriften, die aus "Italo-Western stammen könnten", verliert die Geschichte des politischen Radikalismus in Deutschland ihren Zusammenhang. Vielmehr entstehen Mythen - höchst zweckdienliche überdies: Denn, wenn das "Geschichtskonglomerat RAF" nach wie vorunverstanden als Gespenst umgeht, können kollektive psychische Affekte relativ problemlos kanalisiert werden. Für die einen im immer gleichen Ruf nach Vergeltung, für die anderen in einem abstrakten Radikalismus (bzw. in einer gleichermaßen abstrakten Solidarisierung), der sich in ebenso leeren wie hilflosen Gesten erschöpft. Auf der Strecke bleibt dabei: Politik - auch und gerade in jenem Verständnis, das heute nur noch in schwächlichen Reminiszenzen (etwa als Werbespruch "Make love not war" auf Einladungen zu 68er-Parties) am Rande des Bewußtseins auftaucht. Klaus Theweleit, seit seinem 1977 erschienenen Buch "Männerphantasien" aus der (bundes-)deutschen Literatur nicht mehr wegzudenken, hat mit Ghosts (1998) eine gelungene Analyse derjenigen kollektiven psychischen Prozesse vorgelegt, die das vage mit "links" umschriebene Projekt nach wie vor unterlaufen. Für alle diejenigen ein Muß, die sich nach wie vor mit der Frage "What's left?" ernsthaft auseinandersetzen.

Veranst. : Strömungen, Arbeitskreis Marburger Psychoanalytiker mit freundlicher Unterstützung der Buchhandlung Roter Stern und des Instituts für Psychoanalyse Siegen-Wittgenstein e. V.

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Roger Willemsen

Willemsens Top Ten, aus der Reihe JazzGeschichten

2003 09 03

Viel Geduld mussten die Fans von Jazzmusik und Roger Willemsen am Mittwochabend in Marburgs Waggonhalle mitbringen, bis buchstäblich auch noch der letzte Sitzplatz verkauft war, denn erst dann konnte es losgehen - und das mit mehr als einer halben Stunde Verspätung. Das Warten allerdings hatte sich gelohnt, denn den wohlgesetzten Worten des Jazzkenners und -liebhabers Willemsen, des eloquenten und kenntnisreichen Plauderers im Gespräch mit Ludger Rösner zu lauschen, war ein zweieinhalbstündiger Genuss, von den von ihm ausgesuchten Jazztiteln ganz zu schweigen. "Willemsens Top Ten" hieß die von der Marburger Jazzzinitiative und den"Strömungen" organisierte Veranstaltung, die schon im Anschluss an Willemsens Lesung aus seiner "Deutschlandreise" im April im Marburger Rathaus festgelegt worden war. Der kundige Autor, Literaturkritiker und Ex-Fernsehmoderator schwärmte noch am Mittwoch "es war so schön das letzte Mal", und auch die Marburger lieben ihn, wie der ausverkaufte Saal und die lange Schlange am Kartenhäuschen bewiesen. Willemsen wollte also seine persönliche Jazz-Hitparade, seine "Top Ten" präsentieren, doch aus den besten zehn Titeln wurden im Laufe des Abends rasch 15, und wäre es nach den Zuhörern gegangen, so hätten es auch gut und gern noch ein paar mehr sein dürfen. Das musikalische Spektrum hätte vielfältiger kaum sein können, beginnend mit Liebesliedern über einen Abstecher in die Gefilde der Weltmusik bis hin zu fast einlullenden "Betthupferln" reichte die Auswahl, und Willemsens Prognose, dass es ein "grandioser Abend" werden könnte, war nicht zu vollmundig. Mit zwei Kuriositäten, die ihren ganz eigenen Stellenwert beanspruchen können, begann es - mit der vierschrötigen Saloonlady Sophie Tucker, die in den Vierzigern mit Big Bands übers Land tingelte und so inbrünstig "The Man I Love" trällerte, dass Willemsen von der "wahrsten Interpretation" dieses von Billie Holiday bekannt gemachten Titels sprach. Und mit Blossom Dearies "They Say It`s Spring", mit einer vielleicht unterschätzten Sängerin, die wie viele ihrer Sangeskollegen ins europäische Exil ging, wo sie bescheidene Erfolge feiern konnte. Ungleich bekannter war da schon Chet Baker, der "Prince of Cool Jazz", den die Drogen zerstört haben, und dessen "Angel Eyes" so ans Herz rührte, dass Willemsen von einer "Intelligenz des Fühlens" sprach. Harry Connick Jr. , der manchen als "Sinatra des 21. Jahrhunderts" gilt und durch seinen Soundtrack für "Harry und Sally" bekannt wurde, wäre wohl nicht mal eine Fußnote im Buch der Jazzgeschichte wert, hätte er nicht den Song "Jill" für seine Ehefrau geschrieben. "Ich hätte ihn auch geheiratet - nach dem Lied", meinte Jazzkenner Willemsen augenzwinkernd. Zweimal stand an diesem Abend Michel Petrucciani, das Genie des Jazzpianos, im Mittelpunkt, der hierzulande durch seine Mitwirkung in der ZDF-Talkshow "Willemsens Woche" einem Publikum auch jenseits der Jazz-Zirkel bekannt wurde und dem der Moderator in seinem Dokumentarfilm "Non Stop" ein filmisches Denkmal gesetzt hat. Aus ihm waren auf großer Leinwand zwei Ausschnitte zu sehen, in einem erklang sein wohl bekanntester Titel "Looking Up", vom Meister auf dem Dach eines New Yorker Wolkenkratzers gespielt. Ein Beispiel ganz vitaler Musik war ein Titel des Nationalen Jazzorchesters Äthiopien aus den frühen siebziger Jahren, als die Musik in diesem Land eine Blütezeit erlebte. In ihrem großen Formenreichtum, ihrem Melodienvorrat, ihrer Rhythmik und ihrer Wahrhaftigkeit aus einer sozialen Leiderfahrung heraus lässt sie sich als musikalisches Sprachrohr gegen den Imperialismus verstehen. Ähnliches gilt für Sans' Hymne auf die südafrikanischen "Migrant Workers". Aus solch entlegenen Gebieten ging es zurück zu einem "wunderbaren, wilden Ungeheuer", "dessen Musik schon fett klang, als dieser Ausdruck noch gar nicht in Mode war". Roh, unbehauen und auf gewisse Weise auch als Ausdruck der Befreiung der Gesellschaft kommt Charles Mingus' "The Black Saint and the Sinner Lady" daher. Nicht genug loben konnte Willemsen die hohe persönliche Integrität John Coltranes als Musiker und Mensch, der ebenso großen Einfluss auf die Entwicklung des Saxophonspiels hatte wie Joe Henderson. Coltranes "Welcome" und Hendersons "Blue Bossa" bereicherten den Abend ebenso wie ein Titel des Pianisten Horace Silver, dessen Vater von den Kapverdischen Inseln stammte, deren Musikstil Eingang in Silvers Spiel fand. Lou Reed bescheinigte einst Little Jimmy Scott, "die Stimme eines Engels" zu haben, und wie richtig der Rockmusiker mit dieser Einschätzung lag, konnten die Zuhörer nach "Holding Back the Years" bestätigen. Bevor's dann schließlich in die Heia ging, als Rausschmeißer "Soirée" und "Peace Piece" des Pianisten und Arrangeurs Bill Evans, in dessen Interpretationen Willemsen Intellekt und Lyrik aufs idealste verquickt sieht:"Das Einfachste, was Musik kann". (Guntram Lenz, Marburger Neue Zeitung, 05. 09. 2003)

Veranst. : Strömungen, Waggonhalle, Jazzinitiative Marburg

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Peter Merseburger

Willy Brandt 1913-1992 - Visionär und Realist

2002 12 03

Die große Persönlichkeit Willy Brandts und sein Leben voller Kehren und Positionsverschiebungen faszinieren Peter Merseburger. So sehr, dass er eine Biographie, und zwar eine vielgelobte, über den früheren Bundeskanzler und langjährigen SPD-Vorsitzenden geschrieben hat. Der Kulturverein "Strömungen" lud gemeinsam mit der Buchhandlung "Roter Stern", der SPD Marburg und dem Kulturamt der Stadt den Autoren und bekannten Fernsehjournalisten Peter Merseburger in den historischen Saal des Rathauses ein. "Wir wollten Willy Brandt, der eine wichtige Persönlichkeit für Deutschland war, vorstellen und über ihn sprechen," sagte Otfrid Altfeld von "Strömungen". Marburg ist für den Autor kein fremdes Pflaster. Er hat hier in Marburg studiert, zusammen mit seinem Freund, dem späteren Justizminister der sozialliberalen Koalition, Gerhard Jahn. Bekannt wurde Merseburger vor allem durch seine Mitarbeit bei "Panorama". "Er war damals das bekannteste Fernsehgesicht," erinnert sich Ralf Gehlen vom Buchladen "Roter Stern". Er führte kurz in den Abend ein und diskutierte anschließend mit dem Biograph und dem Publikum. Brandts Zeit als Regierender Bürgermeister in Berlin war Thema des ersten Kapitels, das Merseburger las. Dort habe der spätere Bundeskanzler sein ostpolitischen Vorstellungen zum ersten Mal gedacht und ausprobiert. Aus der Politik der kleinen Schritte, die im Kreise der "heiligen Familie" entstand, wurde später die Ostpolitik. Die "heilige Familie" war der engste Beraterkreis des Bürgermeisters, in der unter anderem Egon Bahr mitwirkte. In Berlin wurde dieser zum "zweiten Außenminister". "Zum Aufstieg verhalfen Brandt vor allem drei Personen", sagte Merseburger. Zum einen Axel Springer, zu dem er zu Beginn ein gutes Verhältnis hatte und der Brandt half, in Berlin an die Regierung zu kommen. Zum zweiten Nikita Chruschtschow, der das Berlin-Ultimatum stellte und damit Berlin in den Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit stellte. Und zuletzt half ihm Konrad Adenauer. Der damalige CDU-Bundeskanzler schickte den SPD-Bürgermeister von Berlin (. . . ) um die Welt, um für die deutsche Berlinpolitik zu werben. So kam es, dass Brandt als Regierender Bürgermeister zu Außenministerkonferenzen eingeladen wurde. Peter Merseburger führte 1961 als Mitarbeiter des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" sein erstes längeres Interview mit dem damaligen Bürgermeister. Nach solchen Interviews oder anderen Begegnungen fragte der leidenschaftliche Witzeerzähler Brandt immer noch die Anwesenden nach einem guten Witz, berichtete Merseburger. Wenn niemand einen Witz parat hatte, erzählte er eben selbst. "Dabei lachte er schon während des Erzählens am lautesten über seine Witze," erinnert sich der Autor. Ob denn der Titel seines Buches "Visionär und Realist" kein Widerspruch sei, wollte Ralf Gehlen wissen. Im Gegenteil, antwortete Merseburger. Bei Brandt sei dies kein Widerspruch sondern eine Ergänzung gewesen. Brandt war mit seinem Denken seiner Partei weit voraus. Er erkannte die damaligen Grenzen realistisch an, um seine visionären Ziele durch Dialog und Kooperation umsetzen zu können. Auf die Frage, wie man Willy Brandt zeitgeschichtlich einordnen müsse, stellte er ihn in die Reihe der drei großen Bundeskanzler: Konrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Kohl. Die Westanbindung Adenauers, die Ostpolitik Brandts und die Wiedervereinigung Deutschlands und seine Einbindung in die Europäische Union durch Kohl seien die wichtigsten Leistungen für Deutschland gewesen. Darüber hinaus erinnerte er an den Nord-Süd-Bericht, den Willy Brandt vor über zwanzig Jahren abgegeben hatte und in dem noch heute visionäre Punkte für Entwicklungspolitik stehen. (Stefan Scholl, Marburger Neue Zeitung, 05. 12. 2002) Visionär und Realist - für den Autor Peter Merseburger vereinte Willy Brandt in seinem politischen Leben diese beiden gegensätzlichen Charakterzüge. Vor gut 80 Zuhörern las der frühere Fernsehjournalist am Dienstagabend im Marburger Rathaus aus der im Herbst in der Deutschen Verlagsanstalt erschienenen Biographie über den Ex-Bundeskanzler und SPD-Vorsitzenden. Eingeladen hatten der Verein Strömungen, das Kulturamt der Stadt Marburg, der Buchladen Roter Stern und die SPD Marburg. "Warum schreibt man heute ein Buch über Willy Brandt, warum ist Willy Brandt heute wichtig?", stellte und beantwortete Merseburger, der in den 70er und 80er Jahren vor allem durch seine Moderation des Fernsehmagazins Panorama bekannt wurde, die Hauptfragen gleich selbst. "Wir leben in einer Welt der austauschbaren Politiker, der austauschbaren Parteien, mit Programmen, die sich kaum unterscheiden. Wir werden regiert von Managertypen. Da ragt ein Mann wie Willy Brandt heraus wie ein Urgestein", warb Merseburger für die Beschäftigung mit dem kämpferischen, unbequemen SPD-Politiker, der vor zehn Jahren starb. Merseburger entschied sich in seiner Lesung für Textstellen, die Brüche und "Kehren" in Brandts Leben zwischen Diktatur und dem Aufbau der Bundesrepublik exemplarische aufzeigen: Er las über die Zeit des Mauerbaus, als sich der aufstrebende Sozialdemokrat als Regierender Bürgermeister Berlins von den Westmächten im Stich gelassen fühlte und sich kämpferisch mit einem Brief, an der Bundesregierung vorbei, direkt an den amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy wandte. Merseburger wählte außerdem ein Kapitel über die Zeit nach dem SPD-Wahlsieg 1972 aus und skizzierte Gründe, die zum vorzeitigen Absturz des großen Wahlsiegers Brandt führten. Brandts Rücktritt kam letztlich durch die Enttarnung des Stasi-Spions Guillaume im Kanzleramt zustande, doch Merseburger, der für sein 860-Seiten-Werk in in- und ausländischen Archiven recherchierte und Zugang zu Brandts Nachlass hatte, trug weitere Indizien zusammen, die die zweite Amtsperiode Brandts von vornherein belasteten: Die Befürchtung, er sei an Kehlkopfkrebs erkrankt, eine Operation mit fast tödlichem Ausgang schwächten Brandts Einfluss auf die Regierungsbildung. Das brachte Personen ins Kabinett, die er nicht wollte. Er wies den heimlichen und eigenwilligen SPD-Strippenzieher Herbert Wehner nicht in die Schranken, war der FDP gegenüber zu großzügig und verlor so Autorität in den eigenen Reihen. In der anschließenden Diskussion, die von Ralf Gehlen vom Buchladen Roter Stern moderiert wurde, unterstrich Merseburger mit Fakten und Anekdoten, mit viel Sympathie und in geschichtlich fundierter Weise das Bild eines großen Politikers, der die Massen faszinieren konnte, sich im Umgang mit dem einzelnen Menschen jedoch nicht leicht tat. (Michael Agricola, Oberhessische Presse, 05. 12. 2002)

Veranst. : Strömungen e. V. , Buchhandlung Roter Stern, SPD-Marburg, Kulturamt der Stadt Marburg

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Dietrich Eichholtz

Stufen zum Galgen

1997 10 04

"Dieses Buch handelt von jenen zivilen und militärischen Führern des Naziregimes, die am 6. Oktober 1946, nachdem Gnadengesuche durchweg abgelehnt worden waren, die dreizehn Stufen zum Galgen hinaufzusteigen hatten. Das waren zehn Männer. " (aus: Stufen zum Galgen)Das Interesse der Autoren dieses Buches richtet sich auf die Lebensgeschichte dieser zum Tode Verurteilten. Sie verfolgen die Spuren der Kindheit und Jugend, des Aufstiegs zur Führungselite im nationalsozialistischen Staat unter anderem von Hermann Göring, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Keitel, Ernst Kaltenbrunner, Alfred Rosenberg und Arthur Seyß-Inquart. Im Rahmen der Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" wird Dietrich Eichholtz, einer der Autoren, u. a. Fragen danach beantworten, warum und wie die erstrangigen Plätze in Staat und Gesellschaft gerade von diesen Männern besetzt wurden, wie diese Männer an die Seite Adolf Hitlers geraten waren und was sie mit ihm verband.

Veranst. : Strömungen

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Helge-Ulrike Hyams

Jüdische Kindheit in Deutschland

1997 03 05

Unser Wissen vom Judentum ist von einem tiefen Widerspruch geprägt. Während über Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden inzwischen vieles bekannt ist, sind unsere Kenntnisse über das jüdische Leben weitaus geringer. Die Kulturgeschichte der "Jüdischen Kindheit in Deutschland" von Helge-Ulrike Hyams ist als Beitrag zur Überwindung dieses Widerspruchs zu verstehen. Die Darstellung der Autorin führt zunächst in die Welt des jüdischen Kindes im Ghettozeitalter, untersucht die Auswirkungen der aufkommend Emanzipation auf jüdische Kindheitserfahrungen und schildert schließlich die Situation jüdischer Kinder während des Nationalsozialismus. Helge-Ulrike Hyams ist Professorin für Erziehungswissenschaften. Sie wird aus dem Buch lesen und über dessen Entstehungsgeschichte berichten. Die Veranstaltung findet im Rahmen der "Woche der Brüderlichkeit" statt.

Veranst. : Strömungen

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Elisabeth Bronfen

Das verknotete Subjekt - Hysterie in der Moderne

1998 11 05

In der Veranstaltungsreihe "Das ICH und das ACH - Psychoanalytische Reflexionen über Liebe, Tod und Schuld" stellt Elisabeth Bronfen, Autorin des Buches "Nur über meine Leiche - Tod, Weiblichkeit und Ästhetik", nun ihre neueste Untersuchung vor:Das verknotete Subjekt - Hyterie in der Moderne. Der Tradition ihres geistigen Ziehvaters Freud verpflichtet, beschreibt sie die Hysterie als allgemeines Problem des modernen Menschen, also auch des Mannes. Hysterie ist, als Ergebnis ihrer Untersuchung, nicht nur die Sprache, in der die Frau um Subjektivität ringt. In der hysterischen Inszenierung - dem Drama um nichts - verkünde der Mensch vor allem die Botschaft der Verwundbarkeit seines Körpers. Anatomisches Zeichen dieser Verwundbarkeit, so Bronfen, sei der Nabel. Er erinnere nicht nur an den Verlust der Mutter, sondern auch an die Sterblichkeit unseres Körpers. Seine Existenz widerspreche allen Allmachts- und Unsterblichkeitsphantasien des Menschen. Anhand literarischer, cineastischer und krankengeschichtlicher Beispiele spürt Bronfen in ihrem Vortrag den modernen hysterischen Inszenierungen nach und versucht, diese zu entschlüsseln.

Veranst. : Strömungen, Arbeitskreis Marburger PsychoanalytikerInnen mit freundlicher Unterstützung des Kulturamtes der Stadt Marburg, des Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie Siegen-Wittgenstein und des Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie Gießen e. V.

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Yehuda Bauer

Freikauf von Juden? Himmlers Verhandlungen in Ungarn

1997 02 06

Die Verhandlungen zwischen Nazis und Juden erschienen und erscheinen vielen Zeitgenossen und Historikern anstößig, die Motive der Beteiligten zweifelhaft, die Übermacht der deutschen Täter unüberwindlich. Yehuda Bauer ist es zu verdanken, daß Licht in dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte gebracht worden ist. Er stellt bisher verschlossenes Archivmaterial vor und untersucht neue Quellen. Dadurch gelingt es ihm, Fragen nach der Möglichkeit des Freikaufs von Juden, den Beteiligten und ihren Motiven und nach der Qualität des Erreichten zu beantworten. Yehuda Bauer lehrt als Professor für Holocauststudien an der Hebräischen Universität in Jerusalem und war Direktor des internationalen Vidal Sassoon Zentrums zur Erforschung des Antisemitismus. Wenn die Nazis ihre Rebellion gegen die Kultur des Abendlandes tätigen wollten, mußten sie da nicht die Juden, das noch lebende Symbol des Ursprungs jener Kultur, vernichten? Die Juden, ob sie selbst es wollten oder nicht, sind ein zentraler Bestandteil des abendländigschen Selbstverständnisses. Das wird sowohl durch die westliche Zivilisation als auch die populäre Kitschkultur, die auch vom Westen kommt, in der ganzen Welt verbreitet. . . Ein Historiker ist meiner Meinung nach jemand, der nicht nur Geschichte analysiert, sondern auch wahre Geschichten erzählt. Also will ich euch erzählen. In Radom lebte eine Frau mit zwei Söhnen. Ihr Mann ging 1939 nach Palästina, um die Einwanderung der Familie vorzubereiten. Der Krieg riß die Familie auseinander. Der Mann wurde palästinensischer Staatsbürger und versuchte, seine Familie durch Austausch gegen deutsche Siedler in Palästina zu retten. Im Oktober 1942, als die Frau schon genau wußte, was ihr und den Kindern bevorstand, rief ein Gestapomann sie zum Amt und sagte, sie würde ausgetauscht werden. In einer Stunde müsse sie mit ihren zwei Söhnen bei ihm erscheinen. "Ja", sagte die Frau, "aber mein älterer Sohn arbeitet außerhalb des Gettos. " Sie fragte, wie sie ihn rufen könne. Das interessiere ihn nicht, sagte der Gestapomann. In einer Stunde solle sie dasein. Und wenn nicht? Die Frau war verzweifelt. Sollten sie und ihr kleineres Kind das Schicksal ihres anderen Sohnes teilen? Oder sollte sie sich und den Kleinen retten? Da kam ihre Nachbarin und sagte: "Schau, du kannst deinen Sohn nicht retten. Nimm meinen gleichaltrigen Sohn statt deines. "Weinend, geschockt stellte sich die Frau mit den zwei Kindern den Deutschen. Am 11. November 1942 war sie in Haifa. . . (aus der Rede von Yehuda Bauer im Deutschen Bundestag, Frankfurter Rundschau, 02. 02. 1998)

Veranst. : Strömungen, mit Unterstützung der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung und der Buchhandlung Roter Stern

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Libuse Moníková

Prager Fenster/Treibeis/Verklärte Nacht

1997 02 07

Seit 1971 lebt Libuse Moníková, Jahrgang 1947, in der Bundesrepublik. Drei Bücher hat sie bisher veröffentlicht: In "Treibeis" beschreibt sie das Schicksal dreier Fassadenerneuerer in der Sowjetunion der 70er Jahre. "Prager Fenster" ist eine Sammlung von Essays. In einem setzt sie sich beispielsweise spöttisch mit jungen Amerikanern auseinander, die sich Prag als romantische und preiswerte Ersatzheimat für ihre Selbstfindung ausgesucht haben und gerne "die neuen Hemmingways, die neuen Fitzgeralds" der 90er Jahre wären. Auch die neue Armut unter Tschechen, die nicht immer einfachen Veränderungen im Alltag beschreibt sie mit kritischem Blick, um doch versöhnlich das Glück des Neubeginns zu betonen. Zum Abschluß stellte sie ihr jüngstes Werk "Verklärte Nacht" vor, betitelt nach einer Stockhausen-Komposition. Dieser Roman greift einen tschechischen Mythos auf: den der unsterblichen Tänzerin, die zu einem ewigen Leben der Einsamkeit verdammt ist. Nicht nur die Sprache ist den Lesern Libuse Moníkovás vertraut. Das Gefühl von Heimweh und leiser Verlorenheit, das sie beschreibt, dieser Grenzzustand zwischen Souveränität und Hilflosigkeit, läßt sich nicht nur aus ihrem Schicksal als Pragerin im Exil erklären. Dies ist auch Thema mancher Autoren der deutschen 68er Generation, die mit den Kindern des Prager Frühlings offenbar eine gemeinsame Gefühls- und Gedankenwelt verbindet. Wenn diese Gefühlswelt mit leisem Witz, der sanften Melancholie und der beiläufigen Poesie von Libuse Moníkovás Prosa dargestellt wird, ist sie für den Leser eine Bereicherung. (Florian Schwebel, Oberhessische Presse, 13. 02. 1997) Frau Moníková hat nicht drei, sondern mindestens vier mir bekannte Bücher veröffentlicht. Sie las nicht aus "Treibeis", sondern aus "Die Fassade". Darin geht es nicht um "Fassadenerneuerer in der Sowjetunion", sondern um Künstler aus Prag, die auf einer Reise nach Japan durch die Sowjetunion kommen. Verklärte Nacht ist keine Stockhausen-Komposition, sondern ein Werk Arnold Schönbergs. Moníková schreibt nicht nur über die Amerikaner in Prag, sondern auch über die Deutschen. (aus einem Leserbrief von Rolf van Dick, Oberhessische Presse, 20. 02. 1997)

Veranst. : Strömungen, in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und der Botschaft der Tschechischen Republik

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Frowin Paul Nyoni

Theatre of Development, neue Wege der Entwicklungshilfe?

1997 03 07

Staatliche Entwicklungshilfe steht in dem Ruf, an den Interessen und Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei zu planen. Mit dem "Theatre of Development" wurde in Tanzania ein neuer Versuch gestartet:Die BewohnerInnen eines Dorfes stellen mit Unterstützung von TheaterschauspielerInnen und -regisseurInnen Aufführungen zusammen, in denen ihre Angelegenheiten zur Sprache kommen. Dadurch werden Kommunikationsprozesse initiiert, an denen sich auch Regierungsvertreter und Mitglieder von Entwicklungshilfeorganisationen beteiligen. Letztere versuchen anhand der Aufführungen gemeinsam mit der Dorfverwaltung, die angesprochenen Probleme und Ansprüche zu analysieren und entsprechende Projekte anzuregen. Frowin Paul Nyoni ist Dozent an der Universität von Dar Es Salaam und Mitinitiator des 'Theatre of Development'Der Vortrag steht im Zusammenhang mit dem Theaterworkshop "Traditional African Story Techniques"

Veranst. : Strömungen, Theater-Gegenstand, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

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Michael Th. Greven, Hubert Kleinert

Möglichkeiten und Grenzen der Politik heute

1999 05 08

Michael Th. Greven stellt sein neues Buch "Die politische Gesellschaft" vor. Er war in den 80er Jahren Professor für politische Soziologie an der Philipps-Universität Marburg und gehört sowohl bundesweit als auch international zu den prominentesten Vertretern seines Faches. Hubert Kleinert, Politikwissenschaftler, war 1983 bis 1990 Mitglied des Bundestages für die Grünen, deren Parlamentarischer Geschäftsführer er 1987 bis 1990 war. Er ist Autor zahlreicher Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen und gilt, nicht nur in den eigenen Reihen, als Vordenker für die Politik einer Neuen Linken im Zeichen der Globalisierung.

Veranst. : Strömungen

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Ingrid Strobl

Widerstand jüdischer Frauen

1997 10 08

Im Herbst '97 erscheint Strobls Buch "Der Widerstand jüdischer Frauen im besetzten Europa". Von dem Band "Sag nie, du gehst den letzten Weg" unterscheidet es sich dadurch, daß es nicht nur auf schriftlichen Quellen, sonderm in hohem Maße auf von ihr erstmals erhobenem oral-history-Material beruht. Die Verfasserin hat Tonbandinterviews mit allen noch lebenden Kämpferinnen, die zur Auskunft bereit und in der Lage waren, geführt. Das Ergebnis ist das Standardwerk zu einem immer noch zu wenig bekannten Aspekt jüdischen Widerstands.

Veranst. : FB Gesellschaftswissenschaften der Philipps-Universität Marburg, Strömungen, Buchhandlung Roter Stern, Marburger Geschichtswerkstatt, Arbeitsgemeinschaft für gewerkschaftliche Fragen, Frauenbeauftragte des Landkreises Marburg-Biedenkopf

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Fritz J. Raddatz

Unruhestifter

2003 10 09

Kein Buch von Rang hat in diesem Herbst für soviele Schlagzeilen gesorgt, so viele Diskussionen ausgelöst wie die Lebenserinnerungen des Literaturkritikers, Essayisten und Romanciers Fritz J. Raddatz. An vielen Marburgern allerdings scheinen die Debatten vor allem in den großen Feuilletons der Republik spurlos vorüber gegangen zu sein, anders jedenfalls lässt es sich nicht erklären, dass die Raddatz-Lesung, zu der "Strömungen", die Buchhandlung Roter Stern und das Marburger Literaturforum am Donnerstagabend in den Rathaussaal eingeladen hatten, wider Erwarten nicht ausverkauft war. "Unruhestifter" nennt Raddatz seine Lebenserinnerungen (Propyläen-Verlag, 496 Seiten, 24 Euro) nicht von ungefähr, denn wo immer er hinkam, stiftete er eine produktive, anregende Unruhe. Das galt für seine Zeit als stellvertretender Leiter des Rowohlt-Verlags in den sechziger Jahren ebenso wie für die acht Jahre als Feuilletonchef der "Zeit", in denen er das intellektuelle Klima in unserem Land entscheidend mitgeprägt hat. Nur noch Marcel Reich-Ranicki, der auf den 500 Seiten Erinnerungen mit keinem Wort Erwähnung findet, hatte wie er eine vergleichsweise zentrale Position im westdeutschen Literaturbetrieb. Dass sich Raddatz in diesen Jahrzehnten nicht nur Freunde gemacht hat, versteht sich von selbst, dass er auf manche Gegenspieler, die ihm das Leben nicht leicht gemacht haben, in seinem Buch wenig zimperlich zu sprechen kommt und dabei weder Freund noch Feind und am wenigsten sich selbst schont, hat in den vergangenen Wochen für manch erregte Diskussion gesorgt. Auch beim Gespräch in Marburg kam dieses Thema natürlich zur Sprache, und es wurde deutlich, dass man so etwas wie eine neutrale Wahrheit von einem Betroffenen nicht erwarten kann. Schließlich ist es das Privileg desjenigen, der über sich selbst schreibt, sich so zu präsentieren, wie er es für richtig und vertretbar hält. Aus zwei seiner 25 Memoiren-Kapitel las der 72-Jährige in Marburg und sprach selbst von "Splittern vom Holze des Lebensbaums". Zum einen ging es um den zwölfjährigen Streuner im Berlin der letzten Kriegsjahre, dessen Stammbaum als "halber Franzose nicht in Ordnung war", weshalb es auch "kein obligatorisches Foto in HJ-Uniform" gab. Es ging um einen Jungen, der nicht für, sondern durch das Leben lernte und sich in der Nachkriegszeit vom Bürgertum, in dem er aufwuchs, weniger erzogen als abgerichtet fühlte. Zum anderen schilderte Raddatz seine Anfangszeit beim Rowohlt-Verlag, der mit Autoren wie Hemingway und Camus, Faulkner und Musil wohl der mit Abstand wichtigste deutsche Nachkriegsverlag war. Welch faszinierender Schilderer Raddatz sein kann, bewies er mit seiner Porträtskizze von Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, der "Unikum und Unikat" war und dessen enorme physische Kraft und intellektuelle Präsenz fast sprichwörtlich war. Seinen Abschied vom Literaturbetrieb hat sich Raddatz mit diesem facettenreichen, lebensprallen Rechenschaftsbericht nicht leicht gemacht. Seinem Credo, dass die Gesellschaft und gerade auch die "zarte und empfindliche Pflanze Kultur" bräsig und beliebig geworden ist und deshalb viel mehr Unruhe und Leidenschaft braucht, konnte keiner der Zuhörer widersprechen. Und manch einer mag auf dem Nachhauseweg darüber sinniert haben, warum seit Jahren schon die Beliebigkeit im deutschen Feuilleton Platz gegriffen hat, und es - bei aller Fehlbarkeit und Angreifbarkeit - solche "dirty old men" der Literaturkritik wie Raddatz oder Reich-Ranicki unter den Nachgeborenen nicht mehr gibt. (Guntram Lenz, Marburger Neue Zeitung, 11. 10. 2003)

Veranst. : Strömungen, Buchhandlung Roter Stern, in Kooperation mit dem Marburger Literaturforum, Leseland Hessen, Stadt Marburg

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Silvia Anders, Justus Noll

Kennt ihr den wissensdurstigen Brecht? Lieder und Texte anläßlich des 100. Geburtstags von Bertolt Brecht

1998 02 10

Aus der Vielfalt und der Vielzahl der mehr als 1000 vertonten Werke hatte Anders für das Publikum in der ausverkauften Waggonhalle ein interessantes Programm zusammengestellt und durch einige Texte aufgelockert. Zwei frühe Lieder, die Brecht als Komponisten ausweisen, auch wenn dieser jeweils vorhandene Melodien dafür verwendet hat, gehörten zu den seltener aufgeführten Werken. Als Schauspielerin und Rezitatorin bewies Sylvia Anders große Qualitäten: Plauderton bis zur schrillen Sirene reicht ihr Repertoire. Sängerisch ließ sie dagegen einige Wünsche offen. In tieferen Lagen war ihre Stimme wandelbar und vielfältig, in der Höhe verfiel sie aber oft in einen opernhaft anmutenden Stil. Die "Ballade vom ertrunkenen Mädchen" aus dem "Berliner Requiem" hat Weill zwar für Männerchor geschrieben. Die A-capella-Interpretation von Sylvia Anders allerdings geriet zum Höhepunkt des Abends, und so manchem lief dabei ein kalter Schauer über den Rücken. Justus Noll entpuppte sich nicht nur als hervorragender Begleiter am Klavier, als Co-Moderator versprühte er zudem viel Witz. Seine rhythmischenund ausdrucksstarken Interpretationen wurden von Sylvia Anders allerdings nicht immer entsprechend ausgebaut. Im "Lied von der belebenden Wirkung des Geldes" war die besungene kalte Welt eher lauwarm. Diesen Eindruck hinterließ mancher Song: Brecht in geglätteter Version. (Oberhessische Presse, 12. 02. 1998)

Veranst. : Strömungen

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Wolfgang Büscher

Berlin - Moskau

2003 10 10

Einer, der so weit gelaufen ist, der kann auch im Stehen lesen. Weshalb sich Wolfgang Büscher am Freitagabend vor 60 Zuhörern im Marburger Rathaus auch gegen den Lehnstuhl und für das Rednerpult entschied. Da stand er nun und erzählte seine Geschichte, die eines frühsommerlichen Morgens in Berlin beginnt und die einige Monate später mit den Erinnerungen an Pasternak und verwinkelten Gassen der Marburger Oberstadt endet. Eigentlich aber endet sie in Moskau. Dorthin war Wolfgang Büscher aufgebrochen. Zu Fuß, mit einem Paar Stiefeln, zwei Paar Socken und einem kleinen Notizbuch in der Hosentasche. "Berlin - Moskau. Eine Reise zu Fuß" heißt sein Buch, geboren aus einem abendlichen Gespräch mit seinem Verleger Alexander Fest. Gewachsen ist es auf langen, mal einsamen, mal unterhaltsamen Märschen. Es sollte eine Reise mit vielen Unbekannten werden. Der 52-jährige Büscher kennt die Universitätsstadt gut. Er hat in den 70ern in Marburg studiert, arbeitete später als Journalist für die "Süddeutsche Zeitung" oder den "Spiegel" und ist inzwischen Ressortleiter bei der Tageszeitung "Die Welt". Anstatt zu seinem Büro im Berliner Axel-Springer-Haus allerdings brach er eines Morgens im Sommer 2002 nach Moskau auf. Nicht nur ein brandenburgischer Bauer sollte damals am Erfolg seiner Unternehmung zweifeln: "Schon durch Polen kommen'se nicht. Da schlagen'se sie tot. "Aber Wolfgang Büscher wurde nicht totgeschlagen. Wolfgang Büscher schrieb ein Reisetagebuch, das zu weit mehr geworden ist, als nur zur Dokumentation einer Wanderung in Zeiten von Düsenjets und Datenautobahnen. Denn Wolfgang Büscher ist kein Reinhold Messner und kein Rüdiger Nehberg, er ist Intellektueller, nicht Abenteurer, einer, der losläuft, nicht um sich selbst, sondern um Geschichten zu finden. Und Büscher findet diese Geschichten, auf einem Soldatenfriedhof an der polnischen Grenze, in einer improvisierten Bar in einem weißrussischen Straßengraben. Es ist auch ein neues, größeres Europa, von dem sein Buch erzählt und von einer immer noch fremden Welt. (Clemens Niedenthal, Oberhessische Presse, 13. 10. 2003)

Veranst. : Strömungen, Buchhandlung Roter Stern, in Kooperation mit Leseland Hessen und der Stadt Marburg

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Sebastian Wohlfeil

Brecht und Co - John Fuegis Brecht-Biographie

1998 02 12

Wird diese Biographie das Bild eines der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts nachhaltig verändern, oder ist der Autor John Fuege nichts weiter als der "Priesterliche Papparazo", wie ihn die NZZ bezeichnete? Die deutsche Fassung breitet nicht nur eine Fülle von bislang unbekannterem Material aus, sondern legt Dokumente vor, die bisher noch nie herangezogen worden sind. Eine neue und offenere Auseinandersetzung mit dem 'armen' Bertolt Brecht ist zwingend. John Fuegi versucht die provokative Frage nach der wahren Autorenschaft der Werke Brechts zu beantworten. Reicht Fuegis "Sex for Text"-These aber zur Klärung der Urheberschaft aus, oder mißachtet sie die tatsächliche Zusammenarbeit der Autorinnen mit Brecht?"Diese deutsche Ausgabe von Brecht und Co stellt eine auch in wissenschaftlicher Hinsicht weit über den üblichen Rahmen hinausgehende Leistung des Übersetzers Thomas Sebastian Wohlfeil dar" (John Fuegi).

Veranst. : Strömungen, Buchhandlung Roter Stern

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Heinrich Hannover

Die Republik vor Gericht - Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts

1999 05 12

Die Liste von Heinrich Hannovers Mandanten spiegelt ein Stück bundesdeutscher Geschichte wider: Die Verfahren gegen Günter Wallraff, Ulrike Meinhof, Peter-Paul Zahl, Astrid Proll, der Thälmann-Prozeß, das Wiederaufnahmeverfahren für Carl von Ossietzky und der Prozeß gegen Hans Modrow haben im ganzen Land Aufsehen erregt. An den Rändern der vermeintlich so sauberen und ordentlichen Bundesrepublik wurden eine Fülle Namenloser zu Kriminellen erklärt. Heinrich Hannover war mutig und kompromißlos. Seine Fälle zeigten immer wieder, daß mit dem Rechtsstaat, der nach 1945 teilweis noch mit den Juristen aus der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland entstanden war, mitnichten alles zum besten bestellt war. Seine Erinnerungen erzählen ein Stück deutscher Geschichte: Schon in den fünfziger Jahren stand Hannover Mandanten zur Seite, die in der Adenauerzeit politische unliebsam waren - Kommunisten, Kriegsdienstverweigerer, Ostermarschierer. Diese Reihe setzt sich in den sechziger Jahren mit den Verfahren rund um die Studentenunruhen fort. Herausragend an diesem Buch ist die ruhige, unaufgeregte Art der Schilderung: Hier schreibt einer, der sich selbst treu geblieben ist, ohne dabei stehengeblieben oder gar verbohrt zu sein. (Darmstädter Echo, 08. 09. 1998)Heinricht Hannover, Jahrgang 1925, arbeitete seit 1954 als Anwalt in Bremen. 1986 wurde er von der Berliner Humboldt-Universität und 1996 von der Universität Bremen mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Er machte sich darüber hinaus aus als Autor zahlreicher Kinderbücher einen Namen. (Marburger Neue Zeitung, 29. 11. 1999)

Veranst. : Strömungen, Buchhandlung Roter Stern

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Otto Kallscheuer, Hans Maier, Peter Kemper, Bassam Tibi

Gespenst der Moderne? Zur Konjunktur des Fundamentalismus - Podiumsdiskussion in der Reihe: Marburger Debatte

1996 06 12

Fundamentalisten haben den Traum von der halben Moderne. Aus der Moderne wählten sich die Fundamentalisten die instrumentellen Errungenschaften. Den kulturellen Gehalt und den Individualismus der modernen Welt lehnten sie jedoch ab, so Nahostexperte Bassam Tibi. Der Philosoph und Politologe Otto Kallscheuer arbeitet in Wien am "Institut für die Wissenschaft vom Menschen". Sein Kollege Hans Maier ist Inhaber eines Lehrstuhls für christliche Weltanschauung in München. Dr. Peter Kemper machte in seinene einleitenden Sätzen auf den inflationären Gebrauch des Begriffs "Fundamentalismus" seit den 80er Jehren aufmerksam. "In allen Weltreligionen finden sich Fundamentalismen", so der Leiter des Abendstudios im Hessischen Rundfunk. Selbst in Öko-Bewegung oder dem Feminismus gebe es fundamentalistische Tendenzen. "Geprägt wurde der Begriff bereits in den 20er Jahren von amerikanischen Protestanten", sage Hans Maier. Heute sei es ein weit verbreitetes Vorurteil, Fundamentalisten gebe es allein unter den Gläubigen des Islam. Die Ideen der Fundamentalisten, die auf einer Wörtlichkeit der "heiligen Schrift" basiert, versprechen einfache Wahrheiten in einer komplexen Welt, so Maier. Sie sprechen das Bedürfnis der Menschen nach Orientierung und einem Lebenssinn an. "Der Individualismus der westlichen Moderne bringt Verwirrung", so Tibi. Der Politologe, der sich selbst als bekennenden Moslem bezeichnet, hat bis zu seinem 18. Lebensjahr in Damaskus gewohnt. "Ich habe mich in Damaskus nie als Subjekt, sondern immer als Individuum gefühlt. " Erst als er während seines Studiums mit europäischen Philosophen konfrontiert wurde, sei Tibi dies bewußt geworden. Die Flucht in fundamentalistische Ideen sei auch eine Suche nach Wärme und einem Kollektiv. Die häufig geäußerte Annahmem daß Fundamentalisten überwiegend aus armen Verhältnissen kommen, sei falsch. Sie seien vielmehr gebildet, Studenten oder Akademiker, und zum Teil in staatlichen oder nichtstaatlichen Institutionen organisiert. Ziel der Fundamentalisten sei, die Trennung von Staat und Kirche zu verhindern oder rückgängig zu machen. "Fundamentalisten sind keine Demokraten", so Tibi. Denn Demokratie, so Maier, verlange Kompromißfähigkeit und Rücksicht auf komfortable Mehrheiten. "Fundamentalisten sind aber nicht kompromißbereit", sagte Maier. Ausgrenzen dürfe man sie deswegen aber nicht. (Norma Binz, Oberhessische Presse, 14. 06. 1996)

Veranst. : Strömungen, Kulturamt der Stadt Marburg, Hessischer Rundfunk

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Karen Duwe

Dies ist kein Liebeslied

2003 10 12

Nein, es gab keine Popliteratur an diesem Abend. Wenngleich Karen Duve im Titel ihres Romans "Dies ist kein Liebeslied" sogar einen Songtitel der HipHop-Band Absolute Beginner zitiert. Mit 'Dies ist kein Liebeslied' sangen die sich vor einigen Jahren in die Charts. Von Liebe allerdings fehlt in Duwes Prosa jede Spur. 'Fußball, Pferde, Gewichtsprobleme und Unglück' seien stattdessen ihre Themen. Im Marburger Rathaussaal erzählte die 41-Jährige am Sonntag vor allem von Unglück. Und einmal ganz kurz von dem englischen Fußballer Paul Gascoigne. Vor allem aber sprach sie von ihrer Protagonistin Anne und deren wenig aufgeräumten Verhältnis zur eigenen Identität, das sich unter anderem in ausgprägten Essstörungen äußert. Doch was nach süßsaurer Betroffenheitslektüre klingt, bleibt bei Duwe eine Geschichte voll 'unbarmherziger Nüchternheit', wie Cerstin Gerecht vom Marburger Verein Strömungen in ihrer Einführung betonte. 'Mit dünnen Beinen könnte ich es leichter ertragen, nicht geliebt zu werden', lässt die Autorin ihre Ich-Erzählerin etwa sagen. Oder aber: 'Was auch geschah, ich hatte nie das Gefühl, es hätte irgendetwas mit mir zu tun. 'In der Tat bleibt 'Dies ist kein Liebeslied' ein über weite Strecken hoffnungsloser, schwer verdaulicher Stoff. So schwer, dass Karen Duwe ihre Arbeit an jenem Roman gar unterbrechen musste: 'An so einer Geschichte zu schreiben, macht irgendwann keinen Spaß mehr. 'Dass 'Dies ist kein Liebeslied' trotzdem so viele Leser und vor allem Leserinnen gefunden hat, mag an der Relevanz des Themenkomplexes Bulimie liegen. Vielleicht aber auch an all den leichten Zwischentönen, zu denen Karen Duwe immer wieder findet. Dann schreibt sie über Schlaghosen, Röhrenjeans und digitale Armbanduhren aus der Zeit der eigenen Konfirmation. Dann schreibt sie in einem Duktus, wie wir ihn von Florian Illies und seiner 'Generation Golf' kennen - Erinnerungsprosa im kurzweiligen Retro-Gewand. Also doch Popliteratur an diesem Abend? Vielleicht meinte Karen Duwe genau dies, als sie vor ihren 60 Zuhörern postulierte, sie wolle 'den Feminismus schicker machen'. (Clemens Niedenthal, Oberhessische Presse, 15. 10. 2003)

Veranst. : Strömungen e. V. , Buchhandlung Roter Stern, in Zusammenarbeit mit Leseland Hessen

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Anne Duden

Der wunde Punkt im Alphabet/Wimpertier

1997 03 13

Eine ungewöhnlich intensive Wahrnehmungsfähigkeit prägt den Blick von Anne Duden. Präzis und überwach, am Schmerz des Erkennens geschult und aufgeladen mit einer bis unter die Haut reichenden Sensibilität, arbeitet sich ihr poetische Sprache durch Verletzungen und Vergessen zur Wahrnehmung vor. Programmatisch für Dudens Schreiben ist das wörtliche Erinnern im Text: Sagen, was sonst ungesagt, unsagbar, unsäglich, unbeschrien und unbeschreiblich bleibt. Für den Band "Wimpertier" bekam Anne Duden den Marburger Literaturpreis 1996. Weitere Veröffentlichungen: "Übergang" (1982), "Das Judasschaf" (1986), "Der wunde Punkt im Alphabet" (1995)"Die Autorin ist empfindsam, ebenso sprachstreng wie phantasievoll, den Verhärtungen und Verletzungen unserer Existenz auf der Spur"(Oberhessische Presse, 15. 03. 1997)

Veranst. : Strömungen, Buchhandlung Roter Stern, Marburger Literaturforum, mit freundlicher Unterstützung des Kulturamtes der Stadt Marburg

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Erich Wulff

Irrfahrten

2002 06 13

Worüber schreibt ein ordinierter Psychiater, wenn er seine Autobiografie verfasst? Über den Klinikalltag? Über all die »verrückten« Patientinnen und Patienten, die ihm im Laufe seiner Berufslaufbahn begegnet sind? Über fachpolitische Auseinandersetzungen in der Direktorenkonferenz? Nein, Erich A. Wulff geht beim Schreiben auf die Suche nach sich selbst als Mensch des 20. Jahrhunderts. Dazu bedient er sich zunächst einmal des literarischen Tricks, in dritter Person zu schreiben und seine »Figur« Adalbert zu nennen, Wulffs zweiter Name, denn »dann wäre der endlich auch zu irgendwas nutze«. Erich Wulffs Biografie ist wohl eine der »schillerndsten« der deutschen Nachkriegspsychiatrie. Als Deutsch-Balte in Estland geboren, als Jugendlicher noch in den letzten Monaten in den Zweiten Weltkrieg involviert, danach ein paar ziel- und heimatlose Jahre in Westdeutschland, schließlich sogar jahrelang in Vietnam lebend und vor allem: Seit den fünfziger Jahren mit einem zweiten Lebensmittelpunkt in Paris. Schließlich die Habilitation und die Berufung nach Hannover, wo er neben Hans-Peter Kisker die Sozialpsychiatrie weiterentwickelte. Und natürlich: nach einer eher verunglückten Ehe in den Sechzigern schließlich die Heirat mit »Marina«, seiner großen Liebe auf den ersten Blick. Ja, Wulff ist in mehreren Kontexten kein Unbekannter. Als Vietnam-Engagierter setzte er sich nicht nur in seiner Rolle als Arzt für die Menschen ein, sondern bezog auch politisch klar Stellung. Gegen die von den US-Amerikanern initiierten Kriegsverbrechen zum Beispiel. In der Folge war er immer wieder an internationalen Kommissionen beteiligt, die Kriegs- und Menschenrechtsverletzungen in vielen Ländern offen legten und anprangerten. Wulff gehörte aber auch zu jenen Linken, die auf dem Fundament des Marxismus und der sozialistischen Theorie die bundesrepublikanische Gesellschaft kritisierten. Ein Stichwort dazu: Ökonomisierung des Gesundheitswesens, heute aktueller denn je. Und schließlich war Wulff einer von den Psychiatern, die ab den siebziger Jahren in Anlehnung an das italienische Vorbild die deutsche Psychiatrie reformierten. Er öffnete als einer der ersten Klinikärzte die Stationen und durchmischte sie nach Geschlechtern. Aber Erich Wulff erzählt all dies beinahe »nebenbei«. Sein Buch heißt ganz zurecht »Autobiografie« und nicht »Memoiren«. Denn in jeder Episode, die er erzählt, beschreibt er seinen Adalbert als Mensch mit Hoffnungen, mit Wünschen, mit Ängsten. Und vor allem: Er stellt ihn durchaus auch als »Scheiternden« dar. Seine Biografie wird im Rückblick kein Siegeszug. Dieses Scheitern betrifft Rückschritte in psychiatrischen Reformen genauso wie politische Niederlagen innerhalb der Linken und klammert auch nicht die vielen kleinen Niederlagen aus, die unser Leben durchziehen. Bei Wulff bedeutet das etwa das lange vergebliche Suchen nach einer festen Beziehung, sprich Ehe. Und Sex? Ja, um Sex geht es dabei auch, sogar öfter als man von einer Psychiater-Autobiografie erwarten würde, mal ist das witzig, mal eher tragisch. Immer aber findet sich der Mensch Erich Adalbert Wulff in den Schilderungen - und das ist es, was das Buch so sympathisch macht. Erich Wulff praktiziert eine in Deutschland seltene Verbindung von Wissenschaft und Literatur, von Politik und Urbanität, von sozialem Engagement und intellektueller Distanz, von ethnologischem Blick und Fähigkeit zur Freundschaft. Wo er in seinen Büchern bewundernswert knapp und einprägsam die Menschen schildert, denen er begegnet ist, spürt man den Arzt, der Fallberichte schreibt, den Phänomenologen, der Dinge und Menschen zum Sprechen bringt und ihnen zuzuhören vermag, ein Gramscianer, noch bevor er Gramsci kannte. Für das Politische im Privaten interessiert er sich nicht weniger als für das Private in der Politik. Seine Kunst des analytischen Erzählers verrät den Psychiater, der Gerichtsgutachten anfertigt, dem nichts Menschliches fremd ist, der mit der immoralischen Neugier eines staunenden Kindes gleichermaßen in die Taten und Seelen der Mörder und in die der Mönche blickt, an deren Gesichtszügen er die Schrift ihrer inneren Kämpfe abliest. Seine Reiseberichte sind die eines Grenzgängers und Experimentators, der dennoch nie den Boden unter den Füßen verliert. Sein erster Bericht über die Amerikaner in Vietnam, eine politisch-psychologische Studie, wurde von Sartre in Frankreich, von Marcuse in den USA übersetzt. Seine Vietnamesischen Lehrjahre, die die wache Intelligenz Deutschlands in eine prägende éducation sentimentale et politique einbezogen, machten es den Denkenden im Lande unmöglich, die amerikanische Kriegsführung in Vietnam nicht abzulehnen. Seine Anstöße zur transkulturellen Psychiatrie strahlten weit über die Fachgrenzen in die Humanwissenschaften aus. Später schilderte sein Bericht von einer erneuten Reise nach Vietnam - nach dem fluchtartigen Abzug der Amerikaner und dem Zusammenbruch des von ihnen gestützten Regimes -, schonungslos die Repression, die das ›befreite‹ Land lähmte. Als Vorsitzender der Deutsch-Vietnamesischen Freundschaftsgesellschaft scheute er nicht den Bannfluch, von dem er wusste, dass er ihn treffen würde, wenn er die staatssozialistische Misere ungeschminkt aussprach. Zum Glück durfte er auch noch erleben, dass man ihm nachträglich recht gab. (Wolfgang Fritz Haug)

Veranst. : Strömungen e. V. , Buchhandlung Roter Stern

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Rolf Plauth, Kay Fischer, Jürgen Kunkel, Harry Tritschler, Herr Sippel, Andre Seidenberg, Erik Fromberg, Ilja Michels (Bremen), Gundula Bartsch, Harry Domber

Drogenkultur, Drogenkonsum, Drogenpolitik - eine Veranstaltungsreihe

1996 06 13 bis 1996 07 17

Drogenprobleme in Marburg zwischen Ignoranz und Akzeptanz. Partydrogen - die Glückspillen der 90er Jahre? In dubio pro reo- juristische Möglichkeiten und Spielräume in der Umsetzung. Drogenpolitik im europäischen Vergleich drogenpolitischer Maßnahmen. Gibt es eine Drogenkultur?Suchtverhalten und Drogenkonsum unter kulturhistorischer Perspektive.

Veranst. : Strömungen mit Unterstützung des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst

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Wladimir Kaminer

Militärmusik - Lesung aus der Reihe: Wozu Literatur?

2001 12 13

Sozialistische Exhibitionisten erschrecken unschuldige Sowjetkinder, rauchende Mongoloide zelebrieren ihre Narrenfreiheit, und Kaminers kleiner Held Wladimir gewinnt mit einem gefälschten Majakowski-Gedicht einen Lyrikwettbewerb. Weil der jugendliche Hochstapler keinen Schimmer hat, womit er in Zukunft sein Geld verdienen will, geht er zunächst auf die Moskauer Theaterschule. Die Welt, die sich dem angehenden Jungdramatiker dadurch eröffnet, ist seltsam: Im renommierten Majakowski-Theater versetzen gewalttätige Fans die Stars von Bühne und Fernsehen mit ihren Attacken in Panik. Ein bisexueller, einäugiger Parteizellenleiter belästigt in der Rolle des chilenischen Diktators Pinochet seinen Kollegen, während ein in Ungnade gefallener Aerobic-Lehrer bei der Premiere eines miserablen Polit-Melodrams seine ganz persönliche Form der Publikumsbestrafung vollzieht: Er pinkelt von der Lichtbrücke direkt in den Zuschauerraum. Wladimirs Welt ist voller Loser und Gescheiterter. Und die sind so sympathisch, dass man es kaum ertragen kann. Kaminer erzählt pars pro toto von einer Kindheit und Adoleszenz, die zwei bis drei Schritte abseits der ideologischen Konformität verlief und zuhauf Künstler hervorgebracht hat, die nicht ernsthaft waren und es auch nicht sein wollen, die sich mittels einer bis ins Mark verinnerlichten Allzweck-Ironie gegen die Banalität des sozialistischen Realismus zur Wehr setzten. (Anette Langer, Spiegel Online, 11. 10. 2001)

Veranst. : Strömungen, Jüdische Gemeinde Marburg e. V. , Marburger Literaturforum e. V. , Rafael Seligmann mit freundlicher Unterstützung des Kulturamtes der Stadt Marburg und des Hessischen Kultusministeriums

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Rolf Schwendter

Tu felix Austria? Die politische Kultur Österreichs

1996 05 14

Was über Österreich in der letzten Zeit in der bundesdeutschen Presse zu lesen war, provozierte eine breite Palette von Reaktionen: von kritischem und sorgenvollen Stirnrunzeln bis hin zu interessierter Neugier. Jörg Haiders nationalistisches Gebaren, seine Erfolge als Landeshauptmann von Kärnten und seine populistischen Angriffe gegen profilierte Kulturschaffende wie Elfriede Jelinek und Claus Peymann ließen mit Erschrecken an Ereignisse der 20er und 30er Jahre denken. Gleichzeitig läßt sich aber auch ein lauter werdender Wunsch nach mehr Integration in den Westen vernehmen: der EU-Beitritt Österreichs letztes Jahr sollte ein weiterer Schritt auf diesem Weg sein. Darüber hinaus hat sich die weltpolitische Bedeutung des Landes durch das Ende des Ost-West-Konfliktes entscheidend verändert. Vom "Frontstaat" ist Österreich zur Drehscheibe zwischen dem "Westen" und dem ehemals feindlichen "Osten" avanciert. Welche Konsequenzen haben diese Entwicklungen und Veränderungen für die politische Kultur dieser Gesellschaft? Der "Professor für Subkultur" und gebürtige Österreicher Rolf Schwendter wird von diesen Ereignissen und vielem mehr erzählen.

Veranst. : Strömungen, Buchhandlung Roter Stern

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Urs Widmer

Im Kongo

1997 05 14

Auf Einladung der Buchhandlungen "Roter Stern" und "Roppel am Markt", des städtischen Kulturamtes und der Kulturinitiative "Strömungen" las der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer vor mehr als 100 Gästen in der Waggonhalle aus seinem aktuellen Roman "Kongo". Wer mit Urs Widmer als Theaterautor, Essayist oder Erzähler bereits Bekanntschaft geschlossen hat, weiß: Da spricht der weitgereiste Geschichtenerzähler. Seine Vorgängerromane wie "Das enge Land", "Die Forschungsreise" oder das Bühnenstück "Nepal" verdeutlichten schon das Fernweh des Autors. . . Was die Literaturgattung des neuen Werkes angeht, sorgte Widmer zu Beginn für klare Verhältnisse: "'Im Kongo' ist ein Roman, denn ein Buch, das aufrecht stehen kann, ist ein Roman". Gewitzt ist Widmers Redefluß auch an anderer Stelle: "Der Einfachheit halber fange ich vorne an zu lesen", lautet die Ankündigung. Als Anfangsschauplatz wird ein Wald skizziert, der Wald des Ich-Erzählers Kuno, unweit von Zürich. Das Vorhandensein von dichter Natur scheint Spuren bei Kuno zu hinterlassen. . . (Oberhessische Presse, 20. 05. 1997)

Strömungen, Buchhandlungen Roter Stern und Roppel am Markt, Kulturamt der Stadt Marburg

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Eva S. Poluda

. . . und sie erkannten einander. . . - aus der Reihe: Das ICH und das ACH - Psychoanalytische Reflexionen über Liebe, Tod und Schuld

1998 05 14

Für uns gehört Erkenntnis zur Wissenschaft und wird von der kühlen Klarheit von um Objektivität bemühter Ratio gewonnen. Demgegenüber halten wir die Liebe für den Gipfel an irrationaler Subjektivität, an dem wir als arme Irre wenigstens von brennender Leidenschaft verwirrtund mindestens blind, . . . zu den größten Dummheiten fähig sind. Anhand literarischer Beispiele und den Besonderheiten in der psychoanalytischen Beziehung untersucht Eva S. Poluda (Diplompsychologin) den Zusammenhang von Liebe und Erkenntnis.

Veranst. : Zusammenschluß Marburger Pychoanalytiker, Strömungen mit Unterstützung des Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie Siegen-Wittgenstein

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Bartholomäus Grill

Ach, Afrika

2003 10 14

Der 'Zeit'-Korrespondent Barholomäus Grill lebt seit zwölf Jahren in Afrika und beschreibt in seinem neuen Buch 'Ach, Afrika' auf provokative Art und Weise die Zustände auf dem schwarzen Kontinent. Am Dienstagabend kam es im Café am Grün zu einem Streitgespräch zwischen dem Autor Grill und dem ghanaischen Schriftsteller und Journalisten Jojo Cobbinah. Etwa 70 Zuhörer verfolgten den interessanten Schlagabtausch der beiden Journalisten. Cobbinah kritisierte, dass Grill bewusst Doppeldeutigkeiten in seinem Buch benutzen würde. Er kritisiere zwar die Umstände, aber nenne nicht die Verantwortlichen. 'Grill ärgert mich seit Jahren mit seinen Büchern, obwohl er eigentlich Recht hat mit seinen Beschreibungen', sagte der Ghanaer und fragte weiter: 'Was denken Sie wirklich? Gibt es Hoffnung für Afrika oder nicht?'Grill antwortete, dass er nicht über jedes afrikanische Land sprechen könne, dafür seien die Probleme zu unterschiedlich. Doch seine Einstellung zu Afrika habe sich in den Jahren geändert: 'Früher habe ich gedacht, dass die äußeren Einflüsse der einzige Grund für die Misere sind, doch ich habe mich getäuscht. Die schwarzen Machteliten in den afrikanischen Ländern sind zu einem Großteil verantwortlich für die katastrophalen Zustände. 'Während die Bevölkerung etwa in Angola leide, würden die herrschenden Eliten 'in Saus und Braus' leben. Es habe sich dort ein Netz von Vetternwirtschaft entwickelt und die Einnahmen aus dem Erdöl- und Diamantengeschäft kämen nur einer Minderheit zugute. 'Der Großteil des Volkes lebt dagegen in bitterster Armut', erklärte Grill. Cobbinar wollte daraufhin wissen, wie die Situation in Afrika verbessert werden könne: 'Was macht Europa, um zu helfen?' Der Afrika-Korrespondent antwortete: 'Es wird kein Schuldgeständnis der europäischen Länder geben, obwohl sie im Kolonialismus den Grundstein für die heutigen afrikanischen Verhältnisse gelegt haben. ' Die Angst vor der Forderung nach möglichen Reparationszahlungen sei zu groß. Ein Besucher der Veranstaltung wollte von Grill wissen: 'Können nicht die Handelsbeziehungen und Geldtransaktionen zwischen den afrikanischen Machteliten und den westlichen Staaten besser kontrolliert werden?' Grill glaubt nicht, dass es dafür eine Chance gibt: 'Einerseits können Staaten diese substaatlichen Kartelle nicht mehr überwachen, das ist aussichtslos. Andererseits verfolgen die westliche Länder rein ökonomische Interessen. Es zählt nur, dass der Preis für Rohstoffe möglichst tief liegt. Moral interessiert überhaupt nicht. ' Der Westen hätte etwa den Völkermord in Ruanda stoppen können, doch niemand habe ein Interesse daran gehabt. 'Das ist die bittere Realität. '(Thomas Kröger, Oberhessische Presse, 16. 10. 2003)

Veranst. : Strömungen, Buchhandlung Roter Stern, in Zusammenarbeit mit Leseland Hessen

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Dirk Kaesler

Soziologie als Berufung

1997 07 15

Dirk Kaesler, Professor für Allgemeine Soziologie an der Philipps-Universität Marburg, wird sein gerade im Westdeutschen Verlag erschienenes Buch "Soziologie als Berufung" vorstellen. Darin geht es um die Selbstbestimmung der Soziologie. Vier Aspekte sollen insbesondere Berücksichtigung finden:erstens die Auseinandersetzung mit der die Soziologie umgebenden Wirklichkeit - also mit politischen Zusammenhängen,zweitens die (Weiter-) Beschäftigung mit dem Werk von Max Weber,drittens die Erforschung der Geschichte der deutschen Soziologie,viertens der Versuch, die Soziologie im Wissenschaftskanon zu verorten.

Veranst. : Strömungen, Buchhandlung Roter Stern

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Doron Rabinovici, Wilhelm Solms (Moderation)

Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945. Der Weg zum Judenrat - Lesung und Gespräch aus der Reihe: Wozu Literatur?

2001 05 17

Kennen Sie den schon? Trifft ein Nazi einen Juden. Deutet der Nazi auf die Brust seines Gegenübers, auf der ein Stern angebracht ist, und fragt: "Du Jude?" Antwortet der Jude: "Ich Sheriff. "Wer erzählt solche Witze? Doron Rabinovici, ein Wiener Jude. Rabinovicis Buch "Instanzen der Ohnmacht" beschreibt die inneren Strukturen des Wiener Judenrats. Rabinovici erzählt im Wiener Dialekt, schließlich lebt er dort, seit er drei Jahre alt ist. Nicht nur in Texten wie "117 oder eine kurze Anleitung zum jüdischen Witz" triumphiert bei ihm der Witz über das Verbrechen. Ganz unverkrampft geht der 39-jährige Schriftsteller, Essayist und Historiker mit dem Thema Antisemitismus um. Eine in Deutschland immer noch heikle Thematik, wie Prof. Wilhelm Solms nach der Lesung betonte. Doch für den Wissenschaftler ist auch klar: "Es gelingt Rabinovici, die immer noch herrschende Befangenheit gegenüber dieser Thematik aufzubrechen. Er schreibt einfach fabelhaft. "Ganz offensichtlich fließen dem schlanken, fast zierlichen Mann Romane ebenso leicht aus der Feder wie seine Sachbücher. So stellte er auch seinen 1997 erschienenen Episodenroman "Suche nach M. " vor. Dabei trat die Person Doron Rabinovici ganz hinter ihren Text zurück. Der Autor las in verschiedenen Tonfällen und sensibilisierte das Publikum für die Untertöne und Hintergründe. Faszinierend gelungen ist ihm die Romanschilderung einer Szene bei einem jüdischen Fest: Menschen essen, Mann und Frau werfen sich heiße Blicke zu, oberflächliche Diskussionen über Politik finden statt. Mann und Frau bleiben allein am Tisch zurück. Ab hier entwickelt der Autor einen Erzählstrang, bei dem sich Stufe für Stufe die Verwirrung zweier Menschen entspinnt. Sie begegnen ihrer Erinnerung und erkennen in einer großen Verwechslungsgeschichte, daß sie nicht mehr die sind, die sie früher waren. (Miriam Noll, Oberhessische Presse, 19. 05. 2001)

Veranst. : Jüdische Gemeinde Marburg e. V. , Strömungen, Marburger Literaturforum e. V. , Rafael Seligmann mit freundlicher Unterstützung des Kulturamtes der Stadt Marburg und des Hessischen Kultusministeriums

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Ulrich Herbert, Klaus Theweleit, Herbert Jäger, Moderation Christoph Scheffer

Verstehen ohne Freispruch: Neuere Aspekte in der Täterforschung - Begleitprogramm zur Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944"

1997 10 17

In Daniel J. Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker" wurden die Beschäftigung mit den Handlungsmotiven der Täter und vor allem auch die Grundlagen dieser Entscheidungen in das Zentrum der Auseinandersetzung gerückt. Betrachtet man jedoch das Material, das Goldhagen verarbeitet hat, stellen sich Zweifel an der zureichenden Beantwortung der Fragen nach den Beweggründen der Täter ein. Mit der Podiumsdiskussion wird diese Auseinandersetzung in einem interdisziplinären Rahmen weitergeführt. Dabei geht es nicht darum, Täter von ihrer individuellen Verantwortung zu dispensieren. Es stellt sich gleichzeitig aber die legitime Frage nach den Mechanismen, die die Entscheidungsfindung Einzelner selbstverständlich beeinflussen. Als Geschichtswissenschaftler gab Professor Ulrich Herbert einen Überblick über die Kerngruppe der Täter der deutschen Genozidpolitik. Das seien 300 bis 350 Männer gewesen, die in der Führungsgruppe der Sicherheitspolizei aktiv waren. "Diese unterschieden sich von anderen nationalen Eliten darin, daß sie jünger und besser ausgebildet waren. Viele waren Juristen, und etwa die Hälfte war promoviert", so Herbert. Die Täter hätten nicht zum fanatischen Typus gehört und wären auch keine Technokraten gewesen, "sondern gehörten zur weltanschaulichen Elitegruppe, die auch in der Lage war, sachlich zu handeln". Der Strafrechtler und Kriminologe Professor Herbert Jäger aus Hamburg sagt: "Über das breite Heer des Ausführungspersonals wissen wir so gut wie nichts". Deswegen bezweifle er, daß es eine Täterforschung gebe. Der Sozialpsychologe und Literaturwissenschaftler aus Freiburg, Klaus Theweleit, entgegnete: "Wir wissen von den Tätern jdede Menge. " Die Tätergeneration sei nach dem Krieg "überall sichtbar gewesen". Ulrich Herbert betonte, daß "es ganz normale Leute waren und kein aufgehetztes antisemitisches Volk", das die Verbrechen begangen hätte. Jedoch hätten diese Leute bestimmte Defizite, zum Beispiel an ethischen Werten. "Ganz normale Leute sind für mich ganz normale Wahnsinnige", konterte Theweleit. Bei der Bewertung der Greueltaten würden auch sozialpsychologische Aspekte eine Rolle spielen. Die Vorstellung sie gewesen, daß der germanische Körper durch das Töten überleben könne. Herbert entgegnete, daß die politischen Ziele in der Debatte berücksichtigt werden sollten. "Die Täter fanden auch bei jenen aus der Bevölkerung Zustimmung, die das Morden eigentlich ablehnten. " Der Historiker formulierte provokant: "Die Mörderelite des nationalsozialistischen Staates ist die Aufbaugeneration der Bundesrepublik. "Jäger ging abschließend noch einmal wörtlich auf das Thema des Abends ein: "Verstehen hat nichts mit Freispruch zu tun", sondern das Handeln müsse verstanden werden, damit es beurteilt werden könne. (Anna Ntemiris, Oberhessische Presse, 20. 10. 1997)

Veranst. : Strömungen, Kulturamt der Stadt Marburg

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Teilnehmer/innen

1. Offener Hessischer Schmähwettbewerb: Die hohe Kunst der Invektive

1998 10 17

Was haben sich Eure Teilnehmer als Schähzielscheibe ausgesucht? Dorothee Rothfuß: Das geht vom Spargel über die Männer, die Spießer und die Zukunft Deutschlands bis hin zum Behringtunnel und die Veranstalter des Wettbewerbs. Kulturnews: Die Veranstalter? D. R. : Ja, einem war unser Bewerbungsformular zu blöd, auf dem er seinen Lieblingswitz, seinen Lieblingsfluch und auch seine Schuhgröße angeben mußte. Kulturnews: Wie seid Ihr auf die Idee zu dieser Veranstaltung gekommen? D. R. : Wir wollten nichts Historisch-Wissenschaftliches machen, sondern mit dem Wettbewerb das Publikum selbst kreativ werden lassen. Kulturnews: Und wo ist der Bezug zu 1848? Gerd Krüger: Der liegt darin, daß mit der Revolution die rigiden Pressegesetze außer Kraft gesetzt waren. Die Pressefreiheit wurde erkämpft, und in diesem Zuge kam es unter anderem zu einer Blüte von Schmähungen gegen die Obrigkeit. Kulturnews: Bei Euch mußte jeder unterschreiben, daß er für seine Rede juristisch selbst verantwortlich ist. Hat heutzutage eine Schmährede häufiger juristische Konsequenzen als damals? D. R. : Ich glaube schon. Damals war es fast schon eine Anerkennung zum Beispiel für Politiker, wenn sie Zielscheiben von Schmähreden oder Karikaturen wurden. Kulturnews: Habt Ihr juristischen Beistand? G. K. : Wir hatten mit einem Anwalt vereinbart, kritische Reden zu überprüfen, aber es ist keine dabei, die justitiabel werden könnte. Kulturnews: Sei Ihr enttäuscht? G. K. : Nein. Es geht uns darum, eine unterhaltsame Veranstaltung zu machen, bei der die Leute sich aufs Podium stellen und sagen können, was ihnen stinkt. Kulturnews: Es soll keine politisierende Veranstaltung werden. D. R. : Wir schrieben ja auch ausdrücklich: "Gegen alles Ungemach dieser Welt". Unser Ziel war zudem, die Methode der Schmährede wahrzunehmen und auf heute zu übertragen. (Kulturnews 10/98) In Erinnerung an die witzige Seite der Dichter des Vormärz wird in Marburg die hohe Kunst der stilvollen Schmähung gepflegt. Mit ausgefeilten Kampfreden und literarischen Schimpftiraden treten zehn Schmähende gegeneinander an. Anlaß: Bei den Veranstaltungen zum 150. Jahrestag der deutschen Revolution fehlte dem Kulturverein "Strömungen" und Marburger Kulturamt der unterhaltsame Aspekt. Im Gegensatz zu ihren historischen Vorbildern scheinen die heutigen Schmäher da indes wenig Ergiebiges bei der Obrigkeit gefunden zu haben. Gerade einer der Kampfredner nimmt Politiker auf's Korn. In Marburg entdeckt man die "Übel und Malaisen unserer Zeit" offenbar eher im Spargel. Weitere Themen, die Schmähredner beschäftigen: Männer, Spießer, Rapper, die Veranstalter des Wettbewerbs, das modische Revival der 70er Jahre, die Bürokratie, die Marburger Verkehrspolitik und der Fragebogen für die Bewerbung um den Schmähwettbewerb. (Gesa Coordes, Frankfurter Rundschau, 24. 09. 1998)

Veranst. : Strömungen, Kulturamt der Stadt Marburg

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Thomas Anz

Moderne Literatur und Psychoanalyse

1999 11 17

Viele Schriftsteller, die sich damals mit Freuds Analyse auseinandersetzten, wurden selbst zu Patienten. Während Rilke fürchtete, durch die Therapie seine Kreativität zu verlieren, beschrieben namhafte Autoren wie Hesse, Hofmannsthal, Zweig und Musil sie als Befreiung. " Auch das bekannte Motiv des "Vater-Sohn-Konfliktes", den Franz Kafka in vielen seiner Werke beschrieben hat, sei erst durch die Verarbeitung der Psychoanalyse in der modernen Literatur entstanden. Anz beleuchtete das Thema jedoch auch von der kritischen Seite. "Die Beziehung zwischen diesen beiden Elementen war in Wirklichkeit nicht so harmonisch, wie sie oft dargestellt wird. Es ist eine dramatische Beziehung, die sich ähnlich wie in der therapeutischen Analyse selbst entwickelt hat. " Am Beispiel Schnitzlers erläuterte er die massive Kritik, die gegen Freuds Analyse aufkam. Wie eine Zeitreise in die literarische Moderne wirkte Anz' Vortrag auf die Zuhörer: informativ und voller Dynamik, bisweilen sogar amüsant. Anschaulich beschrieb der Literaturwissenschaftler, seit fünf Jahren Leiter des Forschungsprojektes "Psychoanalyse in der literarischen Moderne", eben jene Brisanz, die die Literatur der Moderne in ihrer Entwicklung prägte. (Katharina Iskandar, Marburger Neue Zeitung, 19. 11. 1999)

Veranst. : Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien, Strömungen, Arbeitskreis Marburger PsychoanalytikerInen mit freundlicher Unterstützung des Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie Gießen und des Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie Siegen-Wittgenstein

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Eckhard Henscheid

Politische Lyrik - Ein Panoptikum

1998 10 18

Wittner: Herr Henscheid, im Mediengeschehen prozessieren zunehmend auch Linke gegen Linke, es gibt Boykottmaßnahmen und dergleichen mehr. Aber kann mann da gleich von Zensur sprechen? Die Autoren werden doch dadurch erst richtig bekannt. Henscheid: Natürlich profitiert z. B. ein Wiglaf Droste ein bißchen von den Reaktionen, sie nerven ihn aber auch wahrscheinlich. Diese Initiativgruppen wollen und brauchen aber auch ihre Feinde und umgekehrt. Früher lautete z. B. die Titanic-Botschaft: Es gibt keine linken Tabufiguren. Die vor Gericht zu sehen, ist manchmal nicht unerfreulich. Die Massierung des Vorgangs dann schon. Wittner: Als René Böll Sie verklagte, gingen Sie bis vor das Bundesverfassungsgericht. Haben Sie wirklich geglaubt, Recht zu bekommen, oder wollten Sie nur einfach einmal alle Möglichkeiten ausreizen?Henscheid: Die Titanic-Justitiarin Gabriele Rittig hatte mich beraten, und es war klar, daß die Chancen nicht groß sein würden. Wir wußten, es würden zigtausend Mark auf dem Spiel stehen, aber mein Grundsatz war: Man muß sich von einem dahergelaufenen Nobelpreisträgersohn nicht alles gefallen lassen. Im zivilrechtlichen Verfahren ging es um die Unterlassung meiner buchkritischen, polemisch zugespitzten Äußerung. Im strafrechtlichen Verfahren hat Bölls Sohn ausgerechnet die verletzte Familienehre geltend gemacht. Hier hätte mir sogar eine Gefängnisstrafe gedroht, hätte die liberale Frankfurter Justiz nicht zweimal festgestellt, daß mit der eventuellen Beleidigung des verstorbenen Vaters nicht automatisch die Ehre der ganzen Familie verletzt ist. Wittner: Woran liegt es, daß zunehmend geklagt wird?Henscheid: Die Zeitung Die Wochen hat einmal einen Artikel in diesem Zusammenhang mit "Mimosenrepublik" übertitelt. Ich war im vergangenen Jahr auch zweimal fast versucht zu klagen. Einmal gegen Reich-Ranicki, weil der mich im Fernsehen einen "Idioten" genannt hatte. Ich habe es dann nicht getan, und man sollte es auch nicht tun. Es verdirbt das öffentliche Klima. Dann gibt es noch zunehmend die Geldnehmer. Der trübsinnigste aller Geldnehmer, die da Nebenverdienstquellen wittern, war 1995/1996 Engholm. Im Fall gegen die Titanic wollte er erst einfach ablenken, später sich dicktun und abgreifen. Wittner: Wie steht es mit dem Interesse, Kritik gegen linke Personen zu üben?Henscheid: In meinen Fällen war das zur Hälfte sozusagen strategisches Interesseeiner Satirezeitung. Schon Mitte der 70er Jahre schien es z. B. Eilert, Gernhrdt, Bernstein und mir im Sinne der öffentlichen Hygiene interessanter, Linke zu kritisieren als Rechte und Rechtsradikale, die wohl doch gar nicht mehr gefährlich waren. Das Ergebnis war, daß allerlei Fronten plötzlich nicht mehr stimmten. Die Frankfurter Rundschau z. B. , bei der wir vorher häufig veröffentlicht hatten, sah uns plötzlich als Hauptfeinde. Gelegentlich brachten sie zum Ausdruck, wir als proletarische Intellektuelle seien zur anderen (rechten, Yuppie-) Seite übergelaufen. Es gab dann z. B. verstärkt Kontakte zur FAZ, weil wir dort eigentlich die näherstehenden Leute hatten - das wirkte zuerst etwas paradox, war es aber keineswegs. Wittner: Es ist nicht nur die FAZ, Sie hatten in den letzten Jahren auch immer wieder in der Criticon, der Zeitschrift der konservativen bis rechtsradikalen Intelligenz, Verehrer Ihrer Texte. Henscheid: Wenn Sie sagen: rechtsradikal, dann bin ich nicht ganz Ihrer Meinung. Es war auch nicht ein Lob des Blattes. Das Ganze ist vielmehr die Folge einer Spätfreundschaft mit einem interessanten Zeitgenossen und Verehrer, Armin Mohler. Wittner: Wenn Sie so ein weites Rezipienten-Feld abstecken, wo stehen Sie dann selbst? Henscheid: Spaß macht mit seit einigen Jahren, in einem Spreizschritt möglichst an einem Tag im bürgerlichen Lager der FAZ und in Konkret präsent zu sein. Politisch am nahestehendsten aber ist mir wohl noch immer die Zeitschrift Konkret und ihr Herausgeber Gremliza. Bei aller Reserve im Einzelnen - manche Mitarbeiter, das diffuse Leserpublikum - ist sie eine der ganz wenigen ernsthaften Zeitungen, in denen wenigstens dieses Gefühl eine Plattform findet: Mit dem Spätkapitalismus stimmt so allerlei nicht. (KulturNews, 2/97)

Veranst. : Strömungen mit freundlicher Unterstützung des Kulturamtes der Stadt Marburg

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Justus Noll

Ludwig Wittgenstein und David Pinsent - Die andere Liebe der Philosophen

1998 12 18

Als sie einander kennenlernten, war es um die beiden auch schon geschehen. Der österreichische Philosoph und englische Mathematiker und Jurist, Ludwig Wittgenstein und David Pinsent, gaben ein Paar ab, das die Umwelt verunsicherte. Da dachten zwei in ähnlichen Bahnen und hatten Verständnis füreinander. Ludwig Wittgenstein über David Pinsent nach dessen Tod: "Täglich denke ich an Pinsent. Er hat mein halbes Leben mit sich genommen. Die andere Hälfte wird der Teufel holen. "

Veranst. : Strömungen, Buchhandlung Roter Stern

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Joscha Schmierer, Reinhard Mutz, Moderation: Stefan Reinecke

Die Bundeswehr als Teil deutscher Außenpolitik - Welche Konzepte verfolgt Rot-Grün?

2002 09 19

Mit der Vereinigung Deutschlands und der Erlangung der vollen Souveränität hat sich die Rolle der Bundesrepublik im internationalen Raum verändert. Anfangs noch verdeckt durch die vereinigungsbedingten ökonomischen und sozialen Probleme hat sich - besonders unter der rot-grünen Bundesregierung - eine neue Unbefangenheit durchzusetzen begonnen. Gerhard Schröder und Joschka Fischer arbeiten Hand in Hand am Projekt Normalität, das von einigen europäischen Regierungen aus welchen Gründen auch immer unterstützt, von anderen aber ebenso vehement abgelehnt wird. Unter außenpolitischer Reform versteht man im rot-grünen Modernisierungsprojekt offenbar die Beseitigung der durch das nationalsozialistische Erbe wie durch die Systemkonkurrenz entstandenen Beschränkungen des internationalen Handlungsspielraumes. Hier ist besonders der Vorschlag des Bundeskanzlers zu erwähnen, er könne sich die Beteiligung der Bundeswehr an einem Friedenseinsatz im Nahen Osten vorstellen. Deutsche Soldaten in Israel wären nach dieser Lesart weder anstößig noch in irgendeiner Hinsicht problematisch, sondern normal. Hinzu kommt, dass sich vor 1998 keine Bundesregierung so aktiv an internationalen militärischen Einsätzen beteiligt hat, wie Rot-Grün. Innerhalb der bundesrepublikanischen Debatte ist der Kurs, den die Regierung in der internationalen Politik eingeschlagen hat, nicht unumstritten. Mit unserer Reihe "Die Rolle der BRD in der Welt" wollen wir deshalb einige zentrale Fragen und Probleme mit Personen aus Wissenschaft und Politik diskutieren.

Veranst. : Strömungen e. V. , HGDÖ

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Rudolf Grulich, Milan Horácek, Hans Lemberg

Deutsche und Tschechen - Erkundung einer schwierigen Beziehung

1997 02 20

Die deutsch-tschechische Erklärung sorgte bereits während ihrer Erarbeitung für kontroverse Diskussionen. Doch auch jetzt noch, nachdem sie bereits einige institutionelle Hürden überwunden hat, bleibt sie für viele, Deutsche und Tschechen, Stein des Anstoßes. Der Anspruch auf individuelle Entschädigung wird z. B. mit der Erklärung für beide Seiten abgelehnt. Doch wie ist es zu beurteilen, daß ehemalige tschechische KZ-Gefangene im Gegensatz zu Polen und Russen von der bundesdeutschen Regierung bisher keinen Pfennig gesehen haben und auch in Zukunft nicht sehen werden?Wie ist es zu erklären, daß die deutsch-tschechische Annäherung so lange auf sich hat warten lassen? Welche Möglichkeiten, aber auch welche Grenzen beinhaltet die Erklärung beider Länder?

Veranst. : Strömungen, in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und der Botschaft der Tschechischen Republik

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Eric J. Hobsbawm

Das Zeitalter der Extreme

1996 09 20

In seiner 1994 erschienenen "Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts" schreibt Eric Hobsbawm:"Am Ende des Jahrhunderts war es zum erstenmal möglich, sich eine Welt vorzustellen, in der die Vergangenheit, auch die Vergangenheit der Gegenwart, keine Rolle mehr spielt, weil die alten Karten und Pläne, die jeden einzelnen Menschen und alle gemeinsam durch das Leben geleitet haben, nicht mehr der Landschaft entsprachen, durch die wir uns bewegten, und nicht mehr dem Meer, über das wir segelten. Wir können nur zurückblicken und feststellen, was auf dem Wege lag, der uns bis hierher geführt hat. Genau das habe ich in diesem Buch versucht. Wir wissen zwar nicht, wovon unsere Zukunft geprägt sein wird; doch ich habe der Versuchung nicht widerstehen können, auch über zukünftige Probleme nachzudenken, jedenfalls sofern sie aus den Ruinen jener Epoche auftauchen werden, die gerade zu Ende gegangen ist. Wollen wir hoffen, daß es eine bessere, gerechtere und lebenswertere Welt sein wird. Das alte Jahrhundert hat kein gutes Ende genommen. "Das Zeitalter der Extreme", das letzte einer Serie, die in den 60er Jahren begann, ist "eine marxistische Analyse der Dynamik des 20. Jahrhunderts - seiner ungeheuren Beschleunigung, der globalen Vernetzung aller Regionen und Lebensbereiche und der weltpolitischen Umwälzungen. . . , der inneren Widersprüche und der Entstehung von immer neuen Krisenzeitaltern durch die kapitalistische Gesellschaft", so der Autor. Am Ende des Vortrags stellt sich Hobsbawm selbst die besten Fragen: "Endet mein Buch zu pessimistisch? Im letzten Kapitel habe ich versucht, Probleme zu skizzieren, die ungelöst sind. Doch ich sehe im Augenblick keine Kräfte, die sie lösen könnten, jedenfalls keine, die mir sympathische sind. " Und auf die Frage nach dem 21. Jahrhundert, dessen brüchiges Fundament Hobsbawm umschrieben hat, antwortet er: "Die Zukunft sieht so aus, wie die Welt heute aussieht. "Mia Nolting, Oberhessische Presse, 24. 09. 1996Hobsbawm wurde 1917 in Alexandria geboren, er verbrachte seine Schulzeit in Wien und Berlin. Seit 1933 lebt er in London. Seit 1947 lehrte er an den Universitäten von London und Stanford sowie am Massachusetts Institute for Technology, an der Cornell University, der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales und am Collège de France. Seit 1984 lehrt er an der New School for Social Research in New York. Seine in deutscher Übersetzung erschienenen Hauptwerke sind: Sozialrebellen, Europäische Revolutionen 1798 - 1948, Revolution und Revolte, Die Blütezeit des Kapitals 1848- 1875, Das imperiale Zeitalter 1875 - 1914, Nationen und Nationalismus

Veranst. : Philipps-Universität, Strömungen, Buchhandlung Roter Stern mit freundlicher Unterstützung des Kulturamtes der Stadt Marburg und der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung

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Jakob Arjouni

Kismet - Lesung aus der Reihe: Wozu Literatur?

2001 10 20

Während sich sein Detektiv mit Zuhältern und Drogenbanden rumärgert, schlägt Arjouni aus dem fettigen Alltagsrassismus an der Frittenbude um die Ecke genau so komische Funken wie aus dem gut gemeinten Getue des auch so liberalen Bürgertums. In "Kismet", dem neuen Kayankaya-Krimi, soll der Detektiv nebenbei den Hund einer Islamwissenschaftlerin wiederfinden: "Natürlich hatte die Islamforscherin mich im Branchentelephonbuch wegen meines Namens ausgewählt, und natürlich hatte sie mir bei unserem Treffen erklärt, wie das mit den Türken und also mit mir alles so sei. Fleißig, stolz, familienbewußt, Traditionen pflegend, die heimlichen Herrscher Asiens - kurz: Ich war ein großes Volk. "Kayankaya als Gast im Aktuellen Sportstudio - das gäbe eine Sternstunde des Fernsehens und eine Begegnung der unangenehmen Art für J. B. Kerner. Leider geht das aber schon deshalb nicht, weil Kayankayas Grundnahrungsmittel Whisky (Chivas) und Bier sind, ferner raucht er wie ein Schlot, und die einzige Sportart, die er betreibt, ist der veritable Schlagabtausch, die schnelle Metapher aus der Hüfte: "Wäre Marilyn Monroe an der Seite einer kleinen, dürren, pickligen, ihr Leben lang Zahnspange tragenden Schwester durchs Leben gegangen, hätte man sagen können: Offenbach und Frankfurt wirkten nebeneinander wie die Monroeschwestern. "Daß das graue Frankfurt in Arjounis Krimis als flimmernde Metropole erscheint, liegt daran, daß Arjouni sich diese Stadt aus der Ferne neu erfunden hat: Nach dem Abitur ging er nach Montpellier, wo er laut Biographie des Diogenes-Verlags "studierte und als Kleiderverkäufer arbeitete". Die Kleider waren Bikinis, und studiert hat er auch nicht sonderlich intensiv, sondern drei Jahre als Kellner gearbeitet. Und nebenbei Frankfurt um seinen Helden herum neu erschrieben. Heute lebt Arjouni in Berlin und in einem Dorf bei Narbonne. Frankfurt möchte er "nicht mehr auf seine Alltagstauglichkeit überprüfen". Aber er will es sich erhalten als "einen Ort, der so schimmert". (Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung, 08. 05. 2001. )

Veranst. : Jüdische Gemeinde Marburg e. V. , Strömungen, Marburger Literaturforum e. V. , Rafael Seligmann mit freundlicher Unterstützung des Kulturamtes der Stadt Marburg und des Hessischen Kultusministeriums

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Marina Gambaroff

Angst und Macht im Dialog der Geschlechter

1999 04 21

Mit Beispielen aus der psychotherapeutischen Praxis, aus Anthropologie und Mythologie zeigt die bekannte Psychoanalytikerin Marina Gambaroff, welche frühkindlichen Ängste Männer und Frauen in ihren Beziehungen beunruhigen können. Die Machtfrage im Dialog der Geschlechter, die immer wieder eine wesentliche, wenn auch oft unbewußte, Rolle spielt, wird beleuchtet, ebenso die Bereitschaft zu unbewußten Schuldgefühlen. Die aufgeworfenen Fragen werden auf dem Hintergrund psychoanalytischer Konzepte diskutiert, wobei ein wesentlicher Akzent auf der frühen Mutter-Kind-Interaktion liegt.

Veranst. : Arbeitskreis Marburger PsychoanalytikerInnen, Strömungen mit freundlicher Unterstützung des Kulturamtes der Stadt Marburg, des Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie Siegen-Wittgenstein e. V. und des Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie Gießen e. V.

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Selim Özdogan

"Wie hängt die Welt zusammen?" - Lesung aus der Reihe: Wozu Literatur?

2001 06 21

Selim Özdogan wollte schon immer Autor werden: auf die Tastatur einhämmern und Geld verdienen. Angefangen hat es - sieht man von den wenigen schlechten Gedichten ab, die viele Menschen in ihrer Jugend schreiben - mit einer Kleinanzeige "Geschichtenschreiber gesucht". Gelandet ist er bei einer Firma, die frivole Texte brauchte für Ansagen ihrer Telephonsex-Dienste unter 0190-Nummern. Er sagte zu. Danach schrieb er kurze Zeit Kolumnen für Frauenzeitschriften. Heute kann er auf eine Reihe von Romanen, Erzählungen und eine Sammlung von Kolumnen zurückblicken, die ihn mittlerweile zu einem "richtigen" Schreiber machen. Einige seiner "frühen Werke" gab Özdogan bei der Lesung in Marburg zum Besten. Darunter auch einer der besagten Telephonsex-Geschichten. Sein überaus engagierter Vortrag amüsierte die Zuhörer zu Tränen. Seine Kolumnen und Erzählungen bereicherte er mit witzigen Beobachtungen und Begebenheiten aus seinem Leben. Zweisprachig aufgewachsen sieht sich Özdogan, der in Köln lebt und schreibt, nicht als typischer Vertreter türkischer Autoren. Migrantenschicksale beispielsweise sind nicht seine Sache. Özdogans Geschichten sind aus dem Leben gegriffen, voller Humor und Zärtlichkeit. Seine jugendlichen Figuren erfahren das Leben mit allen Sinnen. Sie lieben es, Auto zu fahren ohne Ziel, nur um unterwegs zu sein. Frei sein und ausgelassen, mal einen rauchen. richtig verliebt sein. Eine von Özdogans Lieblingsfragen ist: "Wie hängt die Welt zusammen?" Darüber philosophierte er auch im Rathaussaal. Seine eigenwilligen Erklärungen gehen in die Bücher ein. Zum Beispiel die Theorie von den fliegenden Teppichen und den Haschisch rauchenden Kamelreitern. Frisch und jung kommt seine Sprache daher. Sei freut den Leser und unterhält ihn ohne Mühe. Und obwohl Özdogans Bücher sich vor allem an ein jüngeres Publikum wenden, fanden die älteren Zuhörer ebenfalls Spaß daran. Für Ozdogan ist Literatur "ein Stück Luxus, den man sich gönnen soll". (Andreas Brojal, Oberhessische Presse, 23. 06. 2001. )

Veranst. : Jüdische Gemeinde Marburg e. V. , Strömungen, Marburger Literaturforum e. V. , Rafael Seligmann mit freundlicher Unterstützung des Kulturamtes der Stadt Marburg und des Hessischen Kultusministeriums

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Ian Kershaw, Norbert Frei

Hitler 1936 - 1945

2000 10 21

Spiegel: Sie weigern sich, letzte Fragen zu erörtern, die andere Biographen vorsichtig beantworten: etwa ob Hitler zu den Großen der Geschichte zählt oder eine Art Verkörperung des Bösen war. Warum eigentlich? Kershaw: Weil mir solche letzten Fragen nicht dabei helfen, die Vergangenheit zu analysieren. Es gab Millionen ganze einfacher, ganz normaler Menschen, die an Hitler glaubten. Mit metaphysischen Betrachtungen lässt sich deren Verhalten nicht erklären. Es ist auch gar keiner weiteren Erörterung bedürftig, daß ich Hitler abscheulich und das Dritte Reich schrecklich finde. Aber als Historiker bringen mich solche Werturteile keinen Schritt voran. . . . Spiegel: Daß die letzte Entscheidung bei ihm (Hitler, Anm. ) lag, ziehen Sie nicht in Zweifel? Kershaw: Natürlich nicht. Als 1936 David Frankfurter, ein Jugoslawe jüdischen Glaubens, den NSDAP-Landesgruppenführer in der Schweiz, Wilhelm Gustloff, ermordete, ließ Hitler erkennen, daß er derzeit kein Interesse an einer antisemitischen Welle im Reich hege, und es gab dann auch keine. Bei der sogenannten Reichskristallnacht 1938 war es umgekehrt. Hitler stimmte dem drängenden Goebbels zu, und dann brannten die Synagogen. Spiegel: "Dem Führer entgegen arbeiten" - ist das auch Ihr Schlüssel für den Holocaust? Kershaw: Ja. Bezeichnenderweise lassen sich die ersten Schritte in den Genozid ohne Hitlers Einmischung erklären. Nach dem Sieg über Polen 1939 handelt die SS und der Polizeiapparat eigenständig. Indem sie immer neue Projekte für Deportationen und Umsiedlungen erdachten, arbeiteten sie dem Führer entgegen. . . (aus: Der Spiegel, 34/2000)

Veranst. : Hessisches Landesinstitut für Pädagogik, Buchhandlung Roter Stern, Marburger Geschichtswerkstatt e. V. , Strömungen mit freundlicher Unterstützung der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung und des Kulturamtes der Stadt Marburg

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Thomas Brussig, Moderation: Rainer Weiss

Am kürzeren Ende der Sonnenallee.

1999 10 21

In seinem satirischen Bestseller "Helden wie wir" bewies Thomas Brussig, daß selbst sogenannte ewige Verlierer zu literarischen Helden taugen. In seinem neuen Buch "Am kürzeren Ende der Sonnenallee" geht es noch einmal um die Wendegeneration. Micha Kuppisch bewohnt eine Wohnung in unmittelbarer Nähe zur Mauer. Jedesmal, wenn er aus der Haustür tritt, sieht er sich den Schmährufen westlicher Schulklassen ausgesetzt: "Guckt mal, ein echter Zoni!" Kuppisch erträgt das alles schweigend, zumal in wichtigeres umtreibt: Miriam. Brussig beschreibt pointenreich und anregend die Geschichte einer Kindheit auf der kürzeren Seite der durch die Mauer getrennten Sonnenallee. (unter Verwendung einer Rezension der Berliner Morgenpost, 29. 08. 1999)

Veranst. : Strömungen, Hessische Gesellschaft für Demokratie und Ökologie, Heinrich Böll Stiftung mit freundlicher Unterstützung des Marburger Literaturforums

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Kerstin Hensel, Moderation: Rainer Weiss

Gipshut

1999 11 18

Mit realem und magischem Geschehen spielend, verknüpft die Autorin in ihrem neuen Roman gleich zwei merkwürdige Geschichten. Im August 1950 radelt die 16jährige Veronika Dankschön, ein naives, gutmütiges Dorfgeschöpf, zum Siethener See, wo sie ihren Sohn Hans Kielkropf in einer Unterwassergeburt zur Welt bringt. Hans Kielkropf, fanatischer Zeitungsleser, Beststudent, linientreuer Journalist, ein Musterknabe, erlebt die DDR bis zu ihrem bitteren Ende. Während er auf einer Auszeichnungsreise in die Sowjetunion zwischen leeren Kaufhausregalen und endlosen Baumwollfeldern dem Wesen des "Neuen Menschen" nachspürt, fällt in Berlin die Mauer. Ebenfalls am Siethener See, im August 1996, trifft ein deutsch-deutsches Geologenteam ein, um nach den Resten eines erloschenen Vulkans zu forschen. Auf ihren Erkundungstouren geschehen seltsame Dinge. Nicht nur, daß der See zu sprechen beginnt oder eine märkische Sagengestalt mit grausamen Forderungen zum Leben erwacht, auch verknüpft sich die Geschichte der beiden Forscher zusehends mit der des Hans Kielkropf. Mit großer Fabulierlust schafft Kerstin Hensel einen erzählerischen Raum, in dem alles möglich wird: Die Erde beginnt zu beben, aus Kollegen werden Verliebte, die Vulkanspur führt schließlich zum Berliner Palast der Republik, wo Hans Kielkropf als letzter Wächter eine ABM-Stelle innehat. Beide Geschichten enden in eine überraschenden Finale. "Die Gesetze der Logik interessieren die Autorin nicht, sie phantasiert sich ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten der Alogik, denn die sind viel realer und lebensnäher. "(Radio Bremen)"Jeder Satz schreibt Geschichte!"Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt)

Veranst. : Strömungen, Hessische Gesellschaft für Demokratie und Ökologie, Heinrich Böll Stiftung mit freundlicher Unterstützung des Marburger Literaturforums

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Christoph Dieckmann

Journalismus nach der Wende . Ein Resumée nach 10 Jahren.

1999 12 09

Dieckmann liefert eher Literatur als polit-journalistische Analyse. Er wird gerne persönlich, erzählt Geschichten von unten, ist nah bei den Menschen. Das ist Programm: Er will die Erfahrungen des Ostens bewahren, die eigene Geschichte, die eigene Identität. Doch er will nichts rechtfertigen, ist sich bewußt: "Wer eine Diktatur jenseits ihrer staatlichen Verfaßtheit als Heimat beschreibt, läuft über dünnes Eis. " Er muß sich den Vorwurf der Verharmlosung gefallen lassen, wenn er Teil-Idyllen aus der Zeit vor der Wende beschreibt. Dieckmann sieht nicht das große Ganze, sondern die kleinen Empfindungen der Menschen. (Westfalenpost, 19. 11. 1998)

Veranst. : Strömungen, Hessische Gesellschaft für Demokratie und Ökologie, Heinrich Böll Stiftung mit freundlicher Unterstützung des Marburger Literaturforums

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Manfred Kersten, Ralf Kruse, Günther Schmidt, Martin Lüdecke, Moderation: Lutz Blank

Alles im Fluß - Lahntourismus zwischen Reiselust und Naturschutz

1998 10 23

Die Anzahl der Paddler auf der Lahn ist von 15. 000 im Jahr 1991 auf 150. 000 im Jahr 1996 gestiegen. Günther Schmidt (Marburger Tourismus Marketing) betont die beträchtliche wirtschaftliche Bedeutung des Kanutourismus für den Landkreis Marburg-Biedenkopf. Diesen Tourismussektor könne man noch weiter ausbauen. Martin Lüdecke (Naturschutzverband) erklärte, daß das ökologische Gleichgewicht der Lahn in seinen Augen gefährdet sei. "Die Angler und Kanufahrer stören die Natur. Doch auch sie müssen ein Interesse an einer intakten Umwelt haben", so Lüdecke. Ein Gesamtkonzept sei nötig, das die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtige. Ralf Kruse (Lahn-Tour-Aktivreisen) fordert: "Wir brauchen ein Lahnlenkungsmodell, das den Aktivurlaub in unserer Region sichert. " Die Kanufahrer müßten besser über Umweltschutzbelange informiert werden, damit sie die Wichtigkeit der Naturschutzgebiete erkennen würden. "Eine Flußsperrung der Lahn kann keine Lösung sein, denn so wird das Problem nur auf andere Flüsse verlagert", stellte der Pressesprecher des Regierungspräsidiums, Manfred Kersten, fest. (Thomas Kröger, Oberhessische Presse, 26. 10. 1998)

Veranst. : Strömungen

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Paul Parin, Goldy Parin

Forschungsreisender im unwegsamen Gelände 'Mensch' - Ein Gespräch mit dem Ethnologen und Psychoanalytiker Paul Parin

1996 11 23

Anfang der 50er Jahre hatte er mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Ergebnisse seiner Forschungsreisen nach Afrika die sogenannte Ethnopsychoanalyse mitbegründet: der mittlerweile 80jährige Paul Parin. Mit dabei war auch Parins Frau und Forscherkollegin Goldy Parin-Matthèy. Gemeinsam gingen die beiden Zeitzeugen des Jahrhunderts immer neue Wege und mischten sich ein. Das wurde aus ihren eindrucksvollen Erzählungen deutlich. Parin hatte nach seiner medizinischen Tätigkeit für die Partisanenarmee Jugoslawien den Rücken gekehrt und in Zürich mit Psychoanalyse begonnen. 1952 eröffnete er dort eine eigene Praxis. Die Gäste in Marburg erfuhren einiges über Parins in den 50ern begonnenen psychoanalytischen Gespräche mit den westafrikanischen Stämmen der Dogon und Agni. Die Ergebnisse faßte der Wissenschaftler später in den Büchern "Die Weißen denken zuviel" (1963) und "Fürchte Deinen Nächsten wie Dich selbst" (1971) zusammen. Einen neuen Wissenschaftsansatz wollte Parin, der Vorreiter seiner Zeit, damit zunächst gar nicht begründen:"Es war dort viel leichter zu sehen, ob unser Untersuchungsinstrument in Ordnung ist. Für die Afrikaner war es einfacher, keine Vorurteile gegen die Psychoanalyse zu haben, denn sie kannten sie nicht. "Er und seine Kollegen wollten damals nicht therapieren, sondern wissenschaftlich andere Völker kennenlernen. Parins Buch über die Dogon, "ein Volk sympathisch, direkt, lebhaft, wie wenn bei uns jemand eine gute Analyse hinter sich hat", wurde für die 68er-Bewegung zur Hoffnung. Der Mann, der sich selbst als "anarchistischen Sozialisten" bezeichnet hat darüber hinaus Erzählungen zum Beispiel über seine Kindheit in Slowenien veröffentlicht. 1992 wurde er mit dem Erich-Fried-Preis ausgezeichnet: "Jeder wird erkennen, daß Parin ein außerordentlicher Schriftsteller ist. An Mut hat es diesem Schriftsteller nie gefehlt, im Leben nicht und nicht bein Schreiben. ", sagte Christa Wolf anläßlich der Vergabe des Preises an Paul Parin. Ein Urteil, das man nach dem Abend im Café am Grün teilt. (Hinterländer Anzeiger, 27. 11. 1996) Nachtrag: Es ist gut zu wissen, daß das, was ihr im Leben das wichtigste war, sie in den Tod begleitet hat: die Liebe und Treue ihrer "Brüdergemeinde", die Nähe von Freundinnen und Freunden, und natürlich als deren Herz ihr Lebensgefährte Paul Parin. Goldy Parin-Matthèy ist nach kurzer Krankheit in Zürich verstorben. Im nächsten Monat wäre sie 86 Jahre alt geworden. Wer wie sie drei Jahre lang im Spanischen Bürgerkrieg gegen den Faschismus kämpfte, wer wie sie und ihr späterer Ehemann Paul Parin in einem Ärzteteam den Partisanen im jugoslawischen Volksbefreiungskampf diente, dem hat der Lauf der Zeitgeschichte so manche Narbe in Seele und Geist gekerbt. Aber zugleich war dieser auch ihr Lebenselixier und so begründete ihr unentwegter Kampf um Freiheit, Autonomie, Emanzipation, Aufklärung ihr betont herrschaftskritisches "moralisch-anarchistisches" Berufsethos. Nach ihren "wilden" Jahren an verschiedenen Fronten im antifaschistischen Widerstand war es für Goldy Matthèy nur allzu logisch, sich der "Fortsetzung der Guerilla mit anderen, mit subversiven Mitteln" zu verschreiben. Die längste Zeit ihres "zivilen" Lebens bzw. ihres "Lebens in zivilem Ungehorsam" wirkte Goldy Matthèy denn auch an der Seite von Paul Parin und Fritz Morgenthaler in der gemeinsamen Praxis in Zürich als Psychoanalytikerin und ethnopsychoanalytische Feldforscherin in Afrika. Dieses Lebenswerk beendete sie nach eigenem Entschluß mit Beginn dieses Jahrzehnts wohl abgerundet und zufrieden. (Ursula Rütten, Frankfurter Rundschau, 30. 05. 1997)

Veranst. : Strömungen, Buchhandlung Roter Stern

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Roger Willemsen

Deutschlandreise

2003 04 24

Es wurde ein langer Abend - zweieinhalb Stunden lang hingen die gebannt lauschenden Zuhörer im übervollen Saal des Marburger Rathauses und im Foyer desselben an Roger Willemsens Lippen, und auch zu vorgerückter Stunde mochten ih einige noch immer nicht ziehen lassen. Der promovierte Germanist, Journalist, Fernsehmoderator i. R. , Dokumentarfilmer und Buchautor war auf Einladung von "Strömungen", der Buchhandlung "Roter Stern" und des Kulturamtes an die Lahn gekommen, um sein jüngstes, im Verlag Eichborn Berlin erschienenes Buch "Deutschlandreise" . . . vorzustellen, das binnen eines halben Jahres bereits in achter Auflage vorliegt. . . . Zweimal, im Sommer 2001 und im Frühjahr 2002, war der Führerschein-Abstinenzler in Zügen, Bussen und Taxis unterwegs, um das ihm vertraute und zugleich doch auch fremdeste Land zu erkunden, das wir vermeintlich zu kennen glauben. Ein Land, das "am schönsten ist als Versprechen weit weg", aber "dem Schönen darf man am wenigsten zu nahe kommen". Metropolen und Grenzregionen, aber auch kleine Städte und Provinzdörfer sind vor Willemsen nicht sicher, und dabei muss er feststellen, "dass so manche Weiler seit Jahrhunderten im Wahnsinn leben", dass es Wüsteneien gibt, "wo man knietief durch die Langeweile watet". Das russische Sprichwort "Er lügt wie ein Augenzeuge" setzt er als Motto über seine Reisebeschreibungen, ohne sich allerdings zumeist daran zu halten, und mit Forscherneugier und vorurteilslosem Ethnologenblick beschreibt er, was ihm untergekommen ist, sammelt er alles, "was zwischen neun Landesgrenzen die Netzhaut belichtet". Dabei herausgekommen sind statt herkömmlicher sattsam bekannter Reisetipps präzise Beobachtungen, atmosphärische Wahrnehmungen, einfühlsame Schilderungen - eine Collage aus fast essayistischen Beschreibungen und feuilletonistischen Episoden, die skurril, amüsant, schräg, schurrig, anrührend und manchmal auch nur traurig ist. "Es gibt Leute, die möchtest Du erschlagen vor Mitleid", sagt Willemsen, und mit diesem Menschenschlag hat er es öfters zu tun, als es einem Normalsterblichen eigentlich lieb sein dürfte. "Viele Leute sind - auch im guten Sinne - schamloser geworden", weiß Willemsen, wenn er von den beiden Frauen berichtet, die ungeachtet des Ohrenzeugen im Bus über lesbische Sexualpraktiken schwadronieren, oder von den beiden Mädchen, die im Triebwagen in Bayerns tiefster Provinz ihre Drogenpraktiken erörtern: "Mir hom's am Wochenende g'mocht. Die Eltern net dahoam: koaner, der wos dir den Arsch abwischt, wenn was daneben geht. "Und der ausgeglichene Rentner, der nach 30 Ehejahren, plötzlich verwitwet, bekennt: "Der Gram bekommt mich besser als der viele Ärger. "Willemsen dazu: "Meine Heimat ist in diesen Sätzen. Heimat ist die Landschaft, in der man nicht verschwindet. "Dass manches auf seinen Reisen den Autor auch wütend gemacht hat, räumt Willemsen nach dem Lese- und Zuhörvergnügen im Gespräch mit Ralf Gehlen vom "Roten Stern" ein, "aber weniger die Menschen als vielmehr die Verhältnisse werden von meinem Zorn getroffen. "(Guntram Lenz, Marburger Neue Zeitung, 26. 04. 2003) Nach 1970 geborene Kinder haben mit Vorliebe "Deutschlandreise" gespielt, ein pädagogisch wertvolles Brettspiel im orangefarbenen Karton. Da gab es etwa zu erfahren, dass irgendwo in Bremen ein Standbild mit den gleichnamigen Stadtmusikanten steht. Oder dass Meißen für besonders kunstfertige Porzellanmanufakturen gerühmt wird. Von Buchloe oder Villingen hingegen erzählte das Brettspiel nichts. Und auch nicht von den Bahnsteigen in Wilhelmshaven, die man nur durch ein Loch in einer Einkaufspassage betreten kann. Auch nicht von Schlottke, der mehrfach erfolglos versucht hat, sein Leben zu beenden. Nicht von den ballonseidenen Trainingsanzügen in Frankfurt/Oder. Und auch nicht von dem 80-jährigen Mann im Zugabteil, der endlich einmal die Geschichte seines Lebens erzählen darf. Davon erzählt Roger Willemsens Buch "Deutschlandreise". Es ist die Reise in ein Land, das "am schönsten ist als Versprechen, weit weg". Roger Willemsen schreibt das auf der ersten Seite seiner "Deutschlandreise". Und Roger Willemsen wiederholt diese Zeile auch im Prolog seiner vom Verein "Strömungen" veranstalteten Lesung im historischen Rathaussaal einer Stadt, die kein Etappenziel seiner literarischen und - so nennt es der Autor - ethnologischen Exkursion wurde. Stattdessen fuhr Willemsen nach Mölln und Mannheim. Und auch nach Moers. Aber zu dieser Stadt sollte der ehemaligen Fernsehpersönlichkeit partout nichts einfallen. Dabei fällt Roger Willemsen sonst doch so vieles ein. An diesem Donnerstagabend zumindest begegneten die 120 meist weiblichen Zuhörer einem ziemlich eloquenten, angenehm nahbaren und gern mal frivolen Zeitgenossen. Einer, so ließ Willemsen tief in seinen Kleiderschrank blicken, der auf Lesereisen "die Anzüge aus den Fernsehtagen aufträgt" und sich ansonsten gern im Nicki-Pullover sieht - ein auffälliges Kleidungsstück für einen Zwei-Meter-Mann. "Manchmal steckt in der Kleidung mehr Utopie als in der Rhetorik", las Willemsen aus "Deutschlandreise" - und erzählt von Anglizismen auf Jogginganzügen und vom wilden Spiel der Neon-Farben: "Ihre Kleider, das ist die Sprache in der sie sich lesbar machen wollen. Dieser Garfield auf meiner Brust, sagen sie, das bin ich. "Letztlich ist es genau jenes "Ich", nach dem Roger Willemsen auf seiner Reise durch deutsche Provinzen im Sommer 2002 gesucht hat. Und letztlich macht genau das sein Buch so lesens- wie liebenswert. Mag Willemsen auch hin und wieder ein arger Zyniker sein, eigentlich blickt er doch angenehm melancholisch auf sein Land. (Clemens Niedenthal, Oberhessische Presse, 26. 04. 2003)

Veranst. : Strömungen, Marburger Theaterwerkstatt

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Bernd Aretz, Klaus Stehling und Uwe Kerkmann

Ich will nicht nur Schokolade

1997 06 24

Am Stadtrand entdeckte ich Sonderangebote feinster Damenhüte, den kleinen Schwarzen mit Schleier, den Sommerstrohhut - und alles unter zehn Mark. Claus, ein sehr behaarter Mann mit Vollbart, und ich betraten den Laden. Die Besitzerin, eine ältere Dame, wies uns darauf hin, sie verkaufe nur Damenhüte. Ja, ja, das hätten wir schon gesehen, und nun wollten wir den einen oder anderen probieren. Keine versteckte Kamera war sichtbar. Die Dame war mit offensichtlich Irren allein. Nachdem wir schon bei zwei oder drei Hüten erklärt hatten, daß wir sie auch noch nähmen, wurden wir als Kunden ernst genommen. Die Atmosphäre entspannte sich. Claus begehrte zu seinem rosa Seidenkleid, das er in allen Einzelheiten beschrieb, eine Stoffblume. Die Verkäuferin tauchte unter der Ladentheke ab, erschien wieder und drehte eine schwarze Seidenrose vorsichtig in ihrer Hand, schüttelte den Kopf und sagte: "Ach nein. Die ist doch etwas altjüngferlich. Sie wollen sicher etwas Frischeres. "(aus: Notate - aus dem Leben eines HIV-infizierten schwulen Mannes)Wo treffen sich Schwule in Marburg? In den frühen 70er Jahren wandte sich der junge Jurastudent Bernd Aretz mit dieser Frage noch verlegen an einen Taxifahrer. Inzwischen ist die Verlegenheit längst einem offensiven Bekenntnis gewichen. Unter dem Titel "Notate - aus dem Leben eines HIV-infizierten schwulen Mannes" offenbart Bernd Aretz seine Tagebuchnotizen. In einer Gesellschaft, die Sexualität verschämt zu einer Privatsache erklärt, die sich im "Normalfall" zwischen Mann und Frau abspielt, sind Schwule zur Flucht nach vorn gezwungen. Und so kann auch Aretz sein Leben und seine persönliche Identität nur vermitteln, indem er die Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatleben aufhebt. Die Lesung begann mit dem schwierigsten Kapitel im Leben von Bernd Aretz: den letzten gemeinsamen Wochen mit seinem an Aids erkrankten Lebensgefährten. Mit respektvoller Aufmerksamkeit lauschte das Publikum den Schilderungen und bekam einen Eindruck davon, was es heißt, einen geliebten Menschen beim Sterben zu begleiten. "Das Leben ist nicht bloß Elend", notiert Aretz in seinem Tagebuch. Zwar zerreißt ihm das Leiden seines Freundes fast das Herz, und er erleidet den längst überfälligen Nervenzusammenbruch. Doch in dieser Phase erfährt er auch sehr viel Zärtlichkeit und freundschaftliches Mitgefühl - bis Jörg schließlich "eher beiläufig" das Atmen einstellt. Bernd Aretz weiß, daß sich tief empfundene Erlebnisse nur bedingt in Worte fassen lassen. Dennoch hat er einen Weg gefunden, um anderen sein Leben nahe zu bringen: Er geht in die Details. Mit Selbstbewußtsein und Selbstironie ebnete er den Weg auch für jene Zuhörer, für die Sex mit Peitsche die Grenze zu unbekanntem Terrain darstellt. Vor Jahren stand Aretz als junger Anwalt vor der Entscheidung, sich nicht nur in der Szene, sondern auch vor Kollegen und Mandanten zu "outen". Da er die Männer, die er liebt, nicht verleungen wollte, ging er auch an diesem Punkt in die Offensive. Seither führt kein Weg mehr zurück in die Welt der Tabus:"Wir sind nun einmal anders als die anderen" kokettierte Uwe Kerkmann in seinem Liedvortrag. Begleitet von Klaus Stehling am Klavier umrahmte er die Lesung mit Chansons, die ebenso wie die Tagebuchnotizen des Autors das Lebensgefühl bekennender Schwuler zum Ausdruck brachten. Der eine oder ander Seitenhieb auf das Spießbürgertum blieb dabei nicht aus. Doch dies sei gerade denen gestattet, die ihre schwule Identität gegen die herrschenden Moralvorstellungen behaupten müssen. (Simone Kaucher, Hinterländer Anzeiger, 26. 06. 1997)

Veranst. : Strömungen

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Binjamin Wilkomirski

Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939 - 1949

1996 01 25

Binjamin Wilkomirski weiß nicht, wann er geboren ist, er kennt sein Herkunft nicht und hat keinen einzigen Verwandten. Was ihm von seiner Kindheit bleibt, sind Bilder aus Majdanek, aus dem "Kinder- und Frauenfeld" des Vernichtungslagers, aus einem Waisenhaus in Krakau, aus den ersten Jahren bei schweizerischen Pflegeeltern. Der Autor hat Bilder von Ereignissen, Begegnungen seiner frühesten Jahre in Prosa gefaßt. Es ist ein Trümmerfeld einzelner Geschehnisse, die er ruhig, wie mit tastenden Händen darstellt. Binjamin Wilkomirski ist sich bewußt, daß er nicht alles vergegenwärtigen kann. Er zeichnet daher die Bruchstellen, die Schnitte seiner Erinnerungen umso genauer nach. Er blickt als Erwachsener auf eine zerstörte Kindheit. Bernhard Maier wird aus diesen Erinnerungen lesen. Binjamin Wilkomirski und Justus Noll werden die Lesung musikalisch begleiten.

Veranst. : Strömungen, Buchhandlung Roter Stern, Marburger Geschichtswerkstatt

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Frank Heider, Beate Hoch, Hans-Werner Seitz

Ob sie wollten, was sie wurden? Selbstverwaltete Betriebe in Hessen

1997 02 25

Selbstverwaltete Betriebe gehören spätestens seit den 70er Jahren nicht nur in Hessen zur alltäglichen Realität in vielen Städten der alten Bundesrepublik. Gegründet im Kontext der neuen sozialen Bewegungen, haben einige Betriebe bereits ihr silbernes Jubiläum gefeiert. So auch in Marburg, das die höchste Dichte selbstverwalteter Betriebe in Hessen vorweisen kann. Zehn Jahre nach der ersten 'Hessenstudie', der bislang umfangreichsten Untersuchung zum Thema, haben Frank Heider, Beate Hoch und Hans-Werner Seitz die gleichen Betriebe erneut befragt. Die AutorInnen werden die gerade erschienene Langzeitstudie vorstellen und über die Entwicklung der Betriebe sowie die Tragfähigkeit der Selbstverwaltung diskutieren. |veranst|Veranst. : Strömungen

Veranst. : Strömungen

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Otfrid Altfeld

Was ruft der Berg? Strömungen-Exkursion 2002

2002 07 25 bis 2002 07 30

Was also ruft der Berg? Hollarähdullijöh? Oder singt er vielleicht den Gesang einer alpinen Sirene, dem vor allem der jugendliche Gipfelstürmer erliegt, um alsbald den heroischen Kampf "Mann gegen Natur" aufzunehmen? Und das auf von Anfang an verlorenem Posten, denn natürlich wird er schließlich besiegt und "auf ewig" festgehalten - oder zumindest solange, bis der Gletscher den Leichnam des Unglücklichen nach Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten, eben eine "Ewigkeit" später, freigibt und die Geschichte von neuem losgeht: Auffi muaß I! Und ewig lockt nicht nur das Weib - es lockt der Berg. . . . . . Das war einmal. Die Herausforderung hat sich umgekehrt. Die Natur verführt nicht mehr. Die Eindringlinge verführen sich selbst; sie "erobern" nicht mehr die Verführerin, wie in der Frühzeit des Alpinismus, sondern sie suchen nach Selbsterfahrung und -bestätigung oder rein sportlicher Aktivität. Sie lassen sich nicht mehr herausfordern, sie fordern heraus. Die Berge als Sportgerät und Wirtschaftsraum jenseits aller Bergromantik: auf bergbäuerliche Arbeit und vorindustrielle Ausbeutung folgten alpinistische "Eroberung" und schließlich infrastrukturelle und touristische "Erschließung". Die Konflikte zwischen menschlicher Nutzung und der benutzten Landschaft verschärften sich. Immer wenn die Grenze zwischen Kultur- und "Natur"-Raum verschoben wurde - egal in welche Richtung -, kam es und wird es in zunehmendem Maße zu Ereignissen kommen, die unerwünschterweise in die menschliche Interessensphäre eingreifen. Erinnern wir uns an die Kommentare zu den alpinen Unglücken der letzten Jahre, wie zuletzt in Galtür: die alpine Natur verteidige sich gegen uns Eindringlinge, sie "schlage zurück". Lawinen, Muren und Bergstürze als metaphysische Racheakte - es zürnten nicht nur Zeus und Thor, noch heute zürnt der Berg. Die Berglandschaft hat also bei aller Erschließung und Industrialisierung noch der letzten Täler und Hänge wenig vom Mythos der frühen Jahre verloren: Unbelebte Natur ist immer noch handelndes Subjekt, gilt öffentlichkeits- und medienwirksam noch immer als gewalttätig. Nur "lockt" der "Stein- und Schneelawinen ins Tal sendende Berg" nicht mehr. Er, ein der menschlichen Zurichtung ausgeliefertes Stück Landschaft, wird zum alpinen Symbol der ökologischen Misere. Dabei werden wir feststellen, daß die mythischen Kategorien wie "Ewigkeit", "Gewaltigkeit" und nicht zuletzt auch "Gewalttätigkeit" der alpinen Landschaft wahrhafte Papiertiger sind angesichts dessen, was wir wissen über diese Landschaft, über ihre Entstehung und ihren Zerfall, darüber, wie Menschen in, mit und von den Bergen lebten und leben. Und vor allem werden wir uns mit Landschaftswahrnehmung auseinandersetzen - mit unserer eigenen visuellen und körperlichen Wahrnehmung, während wir uns in wandernder Weise der landschaftlichen Dreidimensionalität aussetzen. Wir sehen, daß die Gebirgslandschaft jenseits aller mit Mythos und Mystik verbundenen Geschichten und Legenden eben auch ein Ort der Geschichte ist. Ein Ort der Entwicklung, der Armut und des Reichtums, von Ausbeutung und Verfolgung, von Beharren und Modernisierung. Das Gebirge ist keineswegs eingefrorener, geschichtsloser Zustand, keine "Ewigkeit", keine thematische Leere, kein Stillstand zum Zwecke der Zerstreuung der atemlosen Besucher und Besucherinnen. Das Gebirge ist - wie jede Landschaft - Projektionsfläche menschlicher Entwicklung und Phantasien. Berge sind Landschaft, sonst nichts. Und das ist schon sehr viel. Ein bekannter Alpinist antwortete einmal auf die Frage, warum er Berge besteige: "Weil sie da sind. " Der Berg schweigt. Den 62-seitigen Reader zur Exkursion können Sie gegen einen Unkostenbeitrag von EUR 10,- zzgl. Versandkosten per E-Mail bei Strömungen e. V. bestellen. Aus dem Inhalt:Vom Blick auf die Berge: Über die Wahrnehmung des Phänomens "Berge". Sind Namen nur Schall und Rauch? Frühe Reisende. Engländer. Von Shaftesbury bis Schiller: Die Wende. Das Schöne und das Erhabene. Distanz oder Warum überhaupt reisen? Und doch wieder: Verzauberung. Vom Gebrauch der Berge: Siedlung und Wirtschaft in den Alpen. Von den Anfängen bis zur römischen Ära. Von der nachrömischen Ära bis zur Moderne. Konflikte, Migration und Krisen. Industrialisierung. Gegenbewegungen. Von Menschen auf den Bergen: Alpinismus - Von der Romantik zur Reaktion und "deutschem Heldenmut". Die Anfänge oder Die Aufgabe der Distanz. Gipfel sind Symbole. Eroberung. Sport? Alpinismus und nationale Erhebung. Von Heimat, Blut und Boden. Antisemitismus. Zur medialen Rezeption des Alpinismus im Nationalsozialismus: Der Bergsteiger als kämpfender Mensch. Verdrängte Geschichte. Vom Sterben in den Bergen: Krieg und Landschaft - der "Gebirgskrieg 1915 bis 1918. Blutberge. Mythos und Erinnerung: Von Helden und vom Krieg im Freilichtmuseum. Identität und Revanche. Vom Konsum der Berge: Reisende und alpine Ballermänner. Abenteuerurlaub und die Entdeckung der Servilität. Belle Epoque. Bis zum Zweiten Weltkrieg. Die Massen entdecken den Alpensommer. Der Alpenwinter wird für die Massen erschlossen. Ausblick.

Veranst. : Strömungen e. V.

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Louis Begley, Rainer Weiss

Schmidt - About Schmidt

1997 07 25

In seinem neuen Roman erzählt Louis Begley die Geschichte einer Lebenskrise und deren Überwindung durch die Liebe. Sein Held ist der frühpensionierte, vor nicht langer Zeit noch hochangesehene New Yorker Anwalt Albert Schmidt, ein Don Juan mit rigiden Prinzipien, dem der Ruhestand allmählich zum Alptraum wird: Ein halbes Jahr nach dem Tod seiner Frau eröffnet ihm seine Tochter Charlotte, daß sie heiraten werde, und zwar ausgerechnet Jon Riker - den ehrgeizigen, habgierigen Anwalt und Kanzleikollegen Schmidts, dem er nicht zuletzt die Kürzung seiner Pension zu verdanken hat. Schmidt wendet sich gegen die Eheschließung und verstärkt damit nur die Geschwindigkeit, mit der sich seine Tochter von ihm entfernt. Charlotte fordert schließlich vorab ihr Erbteil. Schmidts Weg in die Einsamkeit und Verbitterung, auf den Begley ihn in diesem von bezaubernder Leichtigkeit gekennzeichnetem Buch begleitet, scheint unausweichlich vorbestimmt, gäbe es da nicht die junge puertoricanische Kellnerin Carrie, die ihn mit allen Sinnen liebt und sein Leben von Grund auf verändert. Louis Begley wurde 1933 in Polen geboren. Er studierte in den USA Literatur und Recht. Seit 1959 lebt er als Anwalt in New York. Mit "Lügen in Zeiten des Krieges" erlangte er internationale Anerkennung, kurz danach folgten die vielbeachteten Romane "Wie Max es sah" und "Der Mann, der zu spät kam". (Suhrkamp-Verlag, 1997)

Veranst. : Strömungen, Kulturamt der Stadt Marburg mit Unterstützung der Sparkasse Marburg-Biedenkopf

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Feridun Zaimoglu, Matthias Altenburg, Moderation: Jürgen Busche

Liebesmale, scharlachrot - Landschaft mit Wölfen, Lesung und Debatte aus der Reihe: Wozu Literatur?

2001 04 26

Hat da gerade jemand von einer Krise der Literatur geredet? Vom Ende der Geschichte gar? Dr. Jürgen Busche sicherlich nicht. Der Feuilletonist der Badischen Zeitung und einstige Wegbereiter des Literarischen Quartetts strahlte während der von ihm moderierten Podiumsdiskussion vor emsiger Faszination. Busche ist jemand, der nach all den Jahren im Literaturbetrieb immer noch Fan geblieben ist. Fan von guter Literatur. Und er war es, der das Wesen der Literatur an diesem Abend prägnant zusammenfasste: "Letztlich ist es die subversive Kraft der Sprache, die entscheidet, ob etwas Literatur ist. Eine gute Geschichte, die nur im Text rüberkommt, reicht da nicht aus. "Altenburg las neben seinem Roman "Landschaft mit Wölfen", für den er den Marburger Literaturpreis erhielt, vor allem Kolumnen, die der selbsternannte "Zeitschriftenhasser" für diverse Zeitschriften verfasst hat. In denen stehen Sätze wie "Im Laden gibt es jetzt Tampons in der Tropical-Frischebox, den Schädel würde ich gerne spalten, der sich solchen Scheißdreck ausdenkt. "Ähnlich direkt und doch ganz anders: Das Werk von Feridun Zaimoglu. Der siedelt seine Geschichten im "Kanakster"-Milieu seiner Heimatstadt Kiel an. "Kanakster" sind junge Türken der zweiten und dritten Generation, aufgewachsen zwischen zwei Kulturen, angespült am Rand einer Gesellschaft, mit der sie nichts gemeinsam haben. Ihnen legt Zaimoglu die von ihm konstruierte "Kanak Sprak" in den Mund, eine rohe und direkte, aber auch bildreiche und poesiehafte Sprache. Und in der sagen seine Protagonisten eindringliche Dinge, über die deutsche Abschiebepraxis etwa: "Da kann man dann im 2. -Klasse-Abteil drittklassig verrecken. "Altenberg als auch Zaimoglu machten deutlich, daß sie aus einem kritischen und politischen Antrieb heraus arbeiteten. In der Diskussion sprach Zaimoglu da schon einmal von "Konformisten-Dreck", wenn das Thema auf die vielbeschworene Pop-Literatur fiel, deren Speerspitze Benjamin von Stuckrad-Barre gerade erst in Marburg gastierte. "Klar macht man sich ein bißchen lächerlich, wenn man sagt, man wolle gegen etwas anschreiben", beschrieb Zaimoglu die entpolitisierte Stimmung der 90er Jahre, um jedoch gleich klarzustellen: Wenn dem so sei, dann mache er sich gerne lächerlich. Aber diesbezüglich konnte ihm Jürgen Busche Hoffnung machen: "Ich glaube, wir werden eine Renaissance der politischen Autoren erleben. "(Clemens Niedenthal, Oberhessische Presse, 28. 04. 2001 und Daniel Hajdarovic, Marburger Neue Presse, 29. 04. 2001)

Veranst. : Jüdische Gemeinde Marburg, Strömungen, Marburger Literaturforum e. V. , Rafael Seligmann mit freundlicher Unterstützung des Kulturamtes der Stadt Marburg und des Hessischen Kultusministeriums

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Thomas Gebauer

Ansichten von Regenmachern und anderen religiösen Spezialisten

1997 06 26

In den überlieferten Kalendern der Longuda und der Tula im Nordosten Nigerias spiegeln sich bis heute die Zusammenhänge und fragilen Gleichgewichte zwischen Naturraum der westafrikanischen Savanne und den Kulturen der dort lebenden Menschen. In ihren Glaubensvorstellungen und Bräuchen sind z. B. Mythen über die Urzeit und die Geburt des Lebens lebendig, die die ganze existentielle Bedeutung dieser überlebenswichtigen Zusammenhänge tradieren und erinnern. Diese Bedeutung kristallisiert sich vor allem in den Aufgaben und Tätigkeiten der religiösen Spezialisten dieser agrarisch geprägten Gesellschaften heraus. Was unternimmt der Regenmacher in Zeiten von Dürre und Epidemien? Wie kann er den Regen in sein Land holen? Wie ruft der "Herr über die Feldfrüchte" die Seele des Getreides zu sich? Was macht er, wenn sein Volk von einer Hungernot bedroht ist?Darüber hinaus wird der Dia-Vortrag von Thomas Gebauer auch der Frage nachgehen, wie sich diese Kulturgüter unter dem Druck der modernen Zivilisation verändern.

Veranst. : Strömungen mit Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

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Thomas Anz, Georg Fülberth, Wilfried von Bredow, Thomas Noetzel, Karl Prümm

Die letzte Ölung

1999 11 26

Der Politologe Georg Fülberth stellte die Verdienste des Kommunismus in den Mittelpunkt. Dieser habe dazu beigetragen, den Faschismus zu zerschlagen und den Sonderweg Deutschlands - wenigstens 40 Jahre lang - zu beenden. Fülberth betonte dies ausdrücklich angesichts einer "bürgerlichen Gesellschaft, die versuche, die Leiche des Sozialismus unter die Erde zu bringen". Thomas Anz staunte nicht schlecht über die Worte seines Vorredners: "So eine Diskussion wäre n meiner früheren Wirkungsstätte Bayern nicht möglich gewesen. " Anz definierte die Formel des "Neuen Menschen". Im 20. Jahrhundert hätten sich Humanisten, Ideologen und Diktatoren daran versucht, die leere Hülle mit Inhalt zu füllen. Für den Literaturwissenschaftler Anz bestand darin die Obsession des 20. Jahrhunderts. "Der Verrat ist der zweitälteste Beruf der Menschheitsgeschichte", leitete der Politikwissenschaftler Thomas Noetzel seinen Diskussionsbeitrag ein. Seine These: Der Kampf zwischen zwei Ideologien beschert dem Verrat Hochkonjunktur. Im nun endenden Jahrhundert löste Idealismus Geld als Motiv für Verrat ab. Spektakuläre Fälle von Verrat lieferten den Stoff für spannende Spiongethriller. Auf die werde man im kommenden Jahrhundert wohl verzichten müssen. Der Medienwissenschaftler Karl Prümm zeichnete das Bild eines "homo electronicus", der im einsamen Kämmerlein von Maschinen, Kabeln und Schläuchen zugestellt ist und vor grünlich flimmernden Monitoren sitzt. Prümm glaubte allerdings, daß dieses Schreckensbild an der Natur des Menschen scheitern werde. Die These von Politikprofessor von Bredow war wohl die provozierendste des Abends. Er meinte: "Das 20. Jahrhundert hat es nicht gegeben. " Es sei lediglich der Erfüllungsgehilfe für das 19. Jahrhundert gewesen, aus welchem all die schönen und schrecklichen Utopien stammten. (Marburger Neue Zeitung, 29. 11. 1999)

Veranst. : Strömungen, Kulturamt der Stadt Marburg

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Uwe Timm

Rot

2002 04 27

Einmal mehr hat Uwe Timm seiner Generation auf die Finger und in die Herzen geschaut: Vor 120 Zuhörern las er am Samstag im Rathaussaal aus seinem aktuellen Roman "Rot". Popliteratur bot Timm an diesem Abend wahrlich nicht. Und das, obwohl sich Uwe Timm mit den beiden Pop-Benjamins Lebert ("Crazy") und Stuckrad-Barre ("Soloalbum") den Verleger teilt. Denn Uwe Timms literarisches Wirken ist von anderem Wesen, von größerer Dauer. Zwar macht auch er es, wie es Ulrich Gmeiner in der "Zeit" formulierte, seinen Lesern leicht. Doch diese werden nicht mit dem schalen Gefühl abgespeist, nichts als klebrige Zuckerwatte genossen zu haben. So einfach sich Timms Texten folgen läßt, so nahe werden dem Leser die unheroischen Helden seiner Geschichten. "Rot", sein aktueller Roman, fußt einmal mehr in der gesellschaftlichen Umbruchstimmung der späten sechziger Jahre. Und in den Desillusionen, die auf diese Epoche folgen sollten. Uwe Timm als Chronist einer Epoche - und als Chronist eines Lebensgefühls. "Wir Spätgeborenen schauen staunend, wehmütig, ja fast ein wenig neidisch auf diese Generation", resümierte Cerstin Gerecht in ihrer profunden Einführung die faszinierende Aura des Buchs. Zumal für Menschen, die Rudi Dutschke nurmehr aus den Erzählungen von Eltern, Lehrern oder großen Brüdern kennen. Nach "68" war Deutschland ein anderes Land geworden, Timms Protagonist aber kaum glücklicher. Der sucht im Verfassen von Jazz-Rezensionen einen letzten Rest künstlerischer Autonomie und verdient sein knappes Geld derweil als Grabredner. Sehr musisch seien seine Reden, wie ihm versichert wurde. Der Vortragsstil des 62-jährigen Autors war am Samstag hingegen angenehm lakonisch: Stets selbstverständlich daherkommende Sätze genauso selbstverständlich rezitiert. Nach vielen hochgelobten Romanen und Kinderbüchern - darunter das großartige "Rennschwein Rudi Rüssel" - genießt es Timm, die eigene Rolle des Erfolgsautoren angenehm unaufgeregt zu interpretieren. (Clemens Niedenthal, Oberhessische Presse, 29. 04. 2002) Uwe Timms "Rot" ist einer der schönsten Romane des vergangenen Jahres, und es ist unverständlich und unverdient, daß es sein Autor, der bei Lesern und Kritikern seit den siebziger Jahren zurecht gleichermaßen großes Ansehen genießt, auch mit diesem, seinem bislang besten Werk noch nicht geschafft hat, in den engsten Kreis der deutschen Literaturelite aufzusteigen. Für Timm selbst mag das zweitrangig sein, allerdings sind ihm und seinem "Rot" noch viel mehr Leser zu wünschen. In Marburg jedenfalls, wo am Samstagabend sein Lesung auf Einladung von "Strömungen" und Kulturamt im vollbesetzten Rathaus-Saal den Höhepunkt der dritten Buchwoche bildete, dürften es jetzt einige mehr sein, wenn man die große Zahl der Signierwünsche im Anschluß an den Vortrag bedenkt. Thomas Linde, der Ich-Erzähler in Timms Roman und ein Mann Mitte Fünfzig, stirbt gleich in der ersten Szene, nachdem er bei Rot über die Straße gegangen ist und von einem Auto erfaßt wurde - gerade als er mit einem Plastiksprengsatz in der Tasche in revolutionärer Mission unterwegs war. Als Engel schwebt er nun über der Szenerie, und Timm, dieser Erzähler aus Leidenschaft, hält auf 430 Seiten seines grandiosen Opus (Kiepenheuer u. Witsch, 22,90 Euro) nun die Grabrede auf einen Ex-Achtundsechziger, der selbst von Beruf Grabredner für Atheisten und zwischen Tod und Liebe hin- und hergerissen war. Zwei Beziehungen standen zuletzt im Mittelpunkt von Lindes Dasein - die zur ungleich jüngeren Lichtdesignerin Iris, die auch zeigt, welche ungeahnten erotischen Möglichkeiten der Berliner Zoo offenbart, und die Recherchen über den toten Aschenberger, einen Kampfgenossen aus Studientagen, der Linde testamentarische zu seinem Grabredner bestimmt hat und zwischen dessen vergilbten Manuskripten, Marx- und Marcuse-Bänden sich Sprengstoff findet, der dafür gedacht war, die Siegessäule in die Luft zu jagen. Timm, der seit seinem gelungenen Romandebüt "Heißer Sommer" (1974) über die Studentenbewegung und ihre Folgen als politisch ambitionierter Schriftsteller tätig ist, kehrt hier zurück zu den Überresten der alten Ideale, erzählt fesselnd vom Scheitern der Utopien einer ganzen Generation, und nicht von ungefähr steht der Beerdigungsredner als Symbol unserer trost- und therapiebedürftigen Gesellschaft: "Wir denken immer, die Dinge lägen an uns, gäben uns Dauer, dabei sind wir ihnen gleichgültig. "Darüber hinaus ist "Rot" nur vordergründig ein Roman über die verlorenen Hoffnungen und Wünsche der 68er, die der Autor nie denunziert, vielmehr aber auch ein Werk übers Altwerden, den Tod und die Liebe, über Utopien und Verbrechen unserer Geschichte, die Kostbarkeiten des Lebens und die Farbe, die ihm den Titel gab. Vor 28 Jahren war Timm mit seinem Buch "Heißer Sommer" zum ersten und bis dato einzigen Mal im Marburg. Anders als damals bestand am Samstag nach der Lesung kein Gesprächsbedarf mehr, und keinerlei Fragen wurden gestellt. Man könnte das damit abtun, daß sich die Zeiten eben geändert haben. Man kann aber auch sagen: Uwe Timm hat mit "Rot" die letzten noch offenen Fragen beantwortet. (Guntram Lenz, Marburger Neue Zeitung, 20. 04. 2002)

Veranst. : Strömungen, Kulturamt der Stadt Marburg

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Christoph Peters

Stadt Land Fluß

1999 05 27

Eine Liebesszene unter schwierigsten Bedingungen: Er, Anfang zwanzig, hat sich in seine Zahnärztin verliebt, liegt auf dem Behandlungsstuhl und ist wild entschlossen, der Ahnungslosen zu erklären, daß er sie heiraten werde. Keine leichte Aufgabe, im Leben nicht und schon gar nicht in der Literatur. Erschwerend kommt hinzu, daß er nur ein mittelloser Student der Kunstgeschichte ist, ein ewiger Kassenpatient also, und sie von Kunst keine Ahnung hat. Sein Vorhaben ist eigentlich aussichtslos. Aber das Unerwartete geschieht: Der Wunsch wird Wirklichkeit, und die Literatur ist um eine hübsche Variante der Liebeserklärungen reicher. Wie die Holzschnitzereien des Douwermannschen Flügelaltars in Kalkar die Figuren überwuchern - der ehemalige Student arbeitet seit Jahren an einer Monographie über den niederrheinischen Bildschnitzer Henrick Douwermann -, so verdecken die Geschichten über die Jugend auf dem Land oder die niederrheinische Verwandtschaft das eigentliche Problem: Hanna ist nicht mehr da. Der Mann redet sich in die gemeinsame Vergangenheit hinein, und plötzlich merkt man: Er verbirgt hinter diesen Geschichten etwas. Er hat ein Geheimnis. Christoph Peters' bestechendes Debut. (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Veranst. : Strömungen, Buchhandlung Roter Stern

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Bernd Nitzschke

Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Der Ausschluß Wilhelm Reichs aus der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft

2000 10 27

Am Beispiel des Ausschlusses Wilhelm Reichs aus den psychoanalytischen Organisationen werden die Hintergründe des Anpassungskurses psychoanalytischer Funktionäre gegenüber dem NS-Staat aufgezeigt. Reich stand damals für eine politisch engagierte Psychoanalyse, die ihren Gegensatz zur nationalsozialistischen Ideologie offen darlegte. Seine Gegner in der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft und in Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung plädierten hingegen für eine Strategie der Neutralität gegenüber dem NS-Staat, die der "Rettung" der psychoanalytischen Institutionen dienen sollte, tatsächlich jedoch zur schrittweisen Selbstgleichschaltung der Psychoanalytiker in Deutschland unter Hitler führte. Bernd Nitzschke studierte Psychologie in Marburg und promovierte in Bremen mit einer Arbeit über Freud und Schopenhauer. Er arbeitet in eigener Praxis als Psychoanalytiker und ist Lehranalytiker am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie in Düsseldorf.

Veranst. : Institut für Politikwissenschaften, Arbeitskreis Marburger PsychoanalytikerInnen, Strömungen mit Unterstützung des Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie Gießen e. V. und des Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie Siegen-Wittgenstein

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Jens Rosteck, Renate Wicke, Julia Vogelsänger

Die Sphinx verstummt

2002 02 28

Er war ein Ausgestoßener am Ende seines Lebens, eine massige Karikatur seiner selbst, absinthsüchtig, verarmt, zerlumpt. Oscar Wilde, einst gefeierter Theaterautor und Star der feinen Salons, der Inbegriff des Gentlemans und des Dandys, Großmeister des Bonmots, war nach Paris gekommen, um zu sterben. Jens Rosteck gab am Donnerstag Abend im Theater neben dem Turm Einblicke in die letzten Jahre des berühmten Ästheten, musikalisch unterstützt von dem Frankfurter Duo "Toscas Töchter". Rosteck griff dabei auf Auszüge aus seinem Buch "Die Sphinx verstummt - Oscar Wilde in Paris" zurück, in dem er sich Wildes großer Zeit in Paris, aber auch dieser letzten Lebensjahre besonders annimmt, die die Biographen oft nicht so interessiert haben - Wilde schrieb in dieser Zeit keine einzige Zeile mehr, so dass für viele seine Lebensgeschichte im Grunde mit der Entlassung aus dem Zuchthaus endet. Und doch ging Wildes Leben auch nach der Abbüßung seiner Strafe für sein "schändliches Treiben" mit seinem jungen Liebhaber Bosie weiter, auch wenn er von sich sagte, "ich habe erlebt, was zu erleben war". Einsam und krank, berüchtigt und verkommen, wanderte er zwischen Cafés und Brücken hin und her, bis zu seinem elenden Tod am 30. November 1900 in einer billigen Absteige. "Er überlebte das Jahrhundert nicht und trug doch dazu bei, es zu überwinden", sagt Rosteck, dessen Texte ein feines und anrührendes Bild des gefallenen Gottes zeichnen. Sprachlich elegant und dem Gegenstand seiner Untersuchungen angemessen nähert er sich dem einsamen Dichter und seiner Zeit. Über die Ereignisse nach Wildes Tod hat er auch Interessantes zu berichten: Am Umgang mit dessen Grabmal, speziell den primären Geschlechtsmerkmalen, die der steinernen Sphinx zu eigen waren, lässt sich einiges über das gestörte Verhältnis zu dem Dichter und seiner geschlechtlichen Orientierung ablesen. Julia Vogelsänger am Klavier und die Sängerin Renate Wicke sorgten mit melancholischen, sentimentalen und frivolen französischen Liedern für ein wenig Atmosphäre im kahlen Theaterraum. Die Präsentation der drei, anfangs ein wenig steif und eckig, wurde im Laufe der anderthalbstündigen Darbietung zunehmend lockerer und entspannter - man hätte gerne länger zugehört, das leider eher spärliche Publikum applaudierte demgemäß kräftig. Aber es gibt ja das Buch, das gewiss ein Lesevergnügen ist:Jens Rosteck, "Die Sphinx verstummt", Propyläen, 342 Seiten, EUR 24. (Heike Döhn, Marburger Neue Zeitung, 02. 03. 2002)

Veranst. : Strömungen e. V, Tuntonia e. V.

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Göran Rosenberg, Wilfried von Bredow

Das verlorene Land Israel

1998 10 28

Göran Rosenberg - Herausgeber der schwedischen Zeitschrift MODERNA TIDER und historischer Kommentator des schwedischen Fernsehes - vereint in seinem Buch "Das verlorene Land Israel" meisterlich die Analyse der politischen Geschichte Israels mit seiner eigenen Biographie. 1948 als Sohn polnisch-jüdischer Eltern, die den Holocaust überlebt haben, in Schweden geboren, geht er nach dem Tod des Vaters mit seiner Mutter anfang der 60er Jahre nach Israel. Einige Jahre später kehrt die Familie nach Schweden zurück. Rosenberg beleuchtet die Ideen des Zionismus von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Immer ging es in der Ideengeschichte des Zionismus um das Land - aber um welches? Am Leitfaden dieser Frage entwickelt er seine Geschichte des modernen Israel. Es ist eine persönliche Geschichte, in der der Autor die Biographien seiner Mitschüler, über dreißig Jahre später, von der Vergangenheit in die Gegenwart weiterverfolgt. Am Ende steht der Anfang: 'Das jüdische Problem', Reflexionen über das Judentum nach dem Holocaust. Wilfried von Bredow - Professor für Internationale Politik an der Marburger Philipps-Universität - wird mit Göran Rosenberg im Anschluß an die Vorstellung des Buches ein Gespräch führen. Bredow und Rosenberg werden unter anderem Fragen nach den Bruchlinien innerhalb der israelischen Gesellschaft, nach jüdischer Identität und nach den Zukunftsperspektiven des Staates Israel diskutieren. Themen, die über die kurze Zeit des Feierns anläßlich des 50. Jahrestages der Staatsgründung Israels hinausweisen. "Kein utopisches Bild verträgt die Verwirklichung", umschrieb Göran Rosenberg sein persönliches Bild vom "gelobten Land" Israel: "Frieden für Land ist eine Formel, der ich mich anschließen will", nahm er auch Stellung zu den Verhandlungen mit den Palästinensern. Wie schwer es ist, einen für die einen politischen, für andere aber zutiefst religiösen Konflikt zu debattieren, zeigte die Diskussion. "Als nicht religiöser Jude können Sie doch gar nicht beurteilen, was die heilige Stadt Jerusalem für uns bedeutet", erklärte ein sich selbst als orthodox bezeichnender Jude, während sich andere Diskussionsteilnehmer lautstark über die "radikal-nationale" Politik der israelischen Regierungskoalition beklagten. "Vielleicht", so die abschließenden Worte des Marburger Politologen Wilfried von Bredow, "können wir als Fazit mitnehmen, daß alle Parteien flüstern und nicht schreien sollten, dann sind eventuell auch Kompromisse möglich. "(Clemens Niedenthal, Oberhessische Presse, 30. 10. 1998)

Veranst. : Strömungen

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Martin Kremer, Johannes Varwick, Christian Sterzing, Moderation: Leo Bieling

Deutschland und die EU-Erweiterung - Das Ende der europäischen Reformbestrebungen?

2002 11 28

Mit der geplanten Erweiterung der Europäischen Union sollen zehn bis zwölf weitere Staaten Mitglied der Gemeinschaft werden. Damit verbunden sind nicht nur viele Hoffnungen in den Beitrittsländern, sondern auch Ängste in den aktuellen Mitgliedsstaaten. Aber auch die Sorge um die Erhaltung der Funktionstüchtigkeit der EU-Strukturen ist weit verbreitet. Kann der EU-Reformkonvent diese Sorgen ernsthaft entkräften? Werden die jeweiligen Besonderheiten der Mitgliedsländer, die ja auch in sich selbst heterogen sind, in Zukunft unberücksichtigt bleiben müssen, um ein minimales Funktionieren der EU-Gremien zu gewährleisten? Und wie sieht es mit den außenpolitischen Implikationen aus: Welche Rolle spielt Deutschland in der Europäischen Union? Wird der EU auf längere Sicht die Rolle des weltpolitischen Gegengewichts zur westlichen Führungsmacht USA zufallen?Schließlich - und dies war bei allen Erweiterungs- bzw. Reformrunden immer die entscheidende Frage: Wie sieht es mit den Kosten aus? Entgegen der Beteuerungen von Politik und Vertretern der EU-Bürokratie erwarten Ökonomen durch die Erweiterung einen zusätzlichen Kostenschub. Wer soll dafür aufkommen? Bleiben die gegenwärtigen Besitzstände bei den Subventionen auf absehbare Zeit erhalten? Ist das finanzierbar oder sollen die neuen Länder einen Mitgliedsstatus light erhalten?

Veranst. : Strömungen e. V. , HGDÖ

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Ingo Juchler

Berkeley - Berlin

1996 11 28

Die Studentenbewegungen der USA und der BRD. Der Politikwissenschaftler Ingo Juchler hat die Studentenbewegungen der USA und der BRD untersucht. Wie diese jeweils von Befreiungsbewegungen und -theorien der "Dritten Welt" beeinflußt wurden, ist die zentrale Frage der Studie, die er im Rahmen dieser Veranstaltung vorstellt.

Veranst. : Strömungen

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Judith Hermann

Sommerhaus, später

1999 05 29

Die Gedanken von Judith Hermanns Helden und Heldinnen kreisen immer wieder um dieselben Themen: um Liebe und Vergänglichkeit und die Angst vor dem ungelebten, dem verhinderten Leben. Die Enkelin, die von ihrer ans Bett gefesselten Großmutter erzählt, der alte Mann, der in einer New Yorker Absteige einer jungen Reisenden begegnet - sie spüren, wie die Zeit an ihnen vorübergezogen ist. Alle aber ahnen, daß sich ihr Leben nicht in der Gegenwart, sondern in der Erinnerung und in der Vorstellung zuträgt, daß Liebe und Vergänglichkeit letztlich zwei Worte für dasselbe sind. "Wir haben eine neue Autorin bekommen, eine hervorragende Autorin. Das Buch der Judith Hermann hat mir tief berührt. Ihr Erfolg wird groß sein. "(Marcel Reich-Ranicki)

Veranst. : Strömungen, Ladies in Cultur

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Rainer Weiss

Dichtung und Wahrheit, ein Lektor erzählt

1997 01 30

Rainer Weiss ist Leiter des Hauptprogramms beim Suhrkamp-Verlag. In dieser Funktion betreut er unter anderem Autoren wie Louis Begley, Jurek Becker, Yasushi Inoue oder Martin Walser. Rainer Weiss bereichtet über seine Arbeit und stellt damit den Mythen, die diesem "Traumberuf" angedichtet werden, die Wahrheit gegenüber.

Veranst. : Buchhandlung Roter Stern mit Unterstützung von Strömungen

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Klaus Ahlheim

Geschöntes Leben

2000 06 30

Wegsehen, (Ver-)Schweigen, Verdrängen, Verschleiern, bisweilen auch systematisch Vertuschen, zag- und krampfhafte Rechtfertigungen, das war für fast zwei Jahrzehnte der Beitrag der deutschen Geisteselite zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit. (Walter Jens)Am 5. Mai 1995 veröffentlichte Klaus Ahlheim in der Oberhessischen Presse einen Beitrag, der sich mit der verschwundenen antipolnischen, antisemitischen und im Sonne großdeutscher Eroberungspolitik verfaßten Dissertation des angesehenen emeritierten Marburger Sozialethikers Dietrich von Oppen aus dem Jahre 1942 befaßte. Anders als viele 'verlorengegangene' Promotionsschriften aus der NS-Zeit hatte diese das Kriegsende im Innsbrucker Universitätsarchiv überdauert. In seinem soeben erschienenen Buch "Geschöntes Leben" zeigt KlausAhlheim nun anhand bisher nicht erschlossener Quellen, wie Dietrich von Oppen sich nach 1945 systematisch eine Lebenslegende aufgebaut hat, die die nationalsozialistische Vergangenheit des jungen Studenten und aufstrebenden Wissenschaftlers von Oppen, der 1937 in die NSDAP und bereits 1933 in die SS eingetreten war, schließlich ganz verschwinden ließ. Ahlheim zeigt ein perfekt geschöntes Leben, die weniger spektakuläre Variante des Falles Schwerte/Schneider, das aber gerade deshalb als exemplarisch für viele Wissenschaftskarrieren vor und nach 1945 gelten kann. Über diesen exemplarischen Fall hinaus kann Ahlheim zeigen, wie eine Kultur des Nicht-Wahrnehmens und Nicht-Wahrhaben-Wollens die Diskussion um die Rolle der Universtität in Nationalsozialismus lange verhindert hat und bis heute noch erschwert. |veranst|Veranst. : Strömungen, Buchhandlung Roter Stern, Buchhandlung am Markt, Marburger Geschichtswerkstatt

Veranst. : Strömungen, Buchhandlung Roter Stern, Buchhandlung am Markt, Marburger Geschichtswerkstatt

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Rolf Plauth, Wofgang Schneider, Wolf-Dieter Hofmeister, Dirk Schäffer, Betroffene

Drogenhilfe - Irrweg oder Ausweg?

2000 05 31

Die Veränderung der Drogensituation - Zunahme des Drogengebrauchs bei Jugendlichen, Folgen der Substitution, Anstieg der Drogentoten - haben bundesweit eine Diskussion über neue Perspektiven der Drogenhilfe in Gang gebracht. Auch in Marburg sind diese Trends spürbar: im Unterschied zur Situation Mitte der 90er Jahre ist die Anzahl der Drogenkonsumenten angestiegen, und sie sind darüber im Stadtbild sichtbarer geworden. Beides hat den Problemdruck auf die Einrichtungen der Sucht- und Drogenhilfe und auf die Politik verschärft. Unter dem Titel Drogenhilfe - Irrweg oder Ausweg? werden wir angesichts der Veränderungen über die Möglichkeiten der Drogenhilfe diskutieren. Die Auseinandersetzung mit Beispielen aus anderen Städten und Bundesländern kann Perspektiven für die Fragen und Probleme in Marburg eröffnen. Dirk Schäffer - Drogenreferat der Deutschen Aids-Hilfe, BerlinWolfgang Schneider - Indro, MünsterWolf-Dieter Hofmeister - Leiter der Substitutions-AG Hessen, FrankfurtRolf Plauth - Drogenberatung, Marburg

Veranst. : Strömungen mit freundlicher Unterstützung der Stadt Marburg und des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst

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Georg M. Oswald

Alles, was zählt - Lesung aus der Reihe: Wozu Literatur?

2001 05 31

Oswald schreibt Fall-Studien im doppelten Sinn: Seine Klienten stürzen ab. So war das mit dem "Fall Lichtenberg", so widerfährt es nun, im neuen Oswald-Roman "Alles was zählt", dem Angestellten einer Bank, der gern Hai sein möchte, aber zum Karpfen wird, als er seinen Job verliert; und der dann im kriminellen Milieuwieder findet, was er im kommerziellen gelernt hat. Thomas Schwarz heißt er, 36 Jahre alt, "stellvertretender Leiter der Abteilung Abwicklung und Verwertung" seiner Bank, vulgo: er treibt Kreditzahlungen ein und damit Menschen ins Chaos. "Wir sind die Totengräber in der Branche", sagt er und findet seinen "Job großartig". "Wer Schulden hat, lügt", heißt seine Maxime, die andere: "Wer Hilfe braucht, hat keine verdient. "Schwarz, der das Pulver nicht erfunden hat, aber damit spielt, offenbart sich dem Leser, als wäre der sein Vertrauter: als Ich-Erzähler, lakonisch, zynisch, kindisch, mit scharfem Blick; als Sprachkonstrukt, das mehr verrät, als es sagt, und fesselnd bleibt bis zur letzten Zeile. Die Szenerie des Romans ist ein leicht verschleiertes München. Das "Schumann's" etwa heißt hier "Lehmann's", und just dort trifft Schwarz auf viele Namen, die in seinem Computer als Schuldner gespeichert sind. "Wie ein Scharfrichter auf Urlaub" fühlt er sich da, bald hat er unfreiwillig Urlaub und lernt die Pump- und Pomp-Society von unten kennen. Mit virtuoser Dramaturgie bringt Oswald seinen Helden dann ins Gangstermilieu, und mit 300. 000 Mark und einer Kauf-Blondine rast Schwarz nach Monaco. Dort will er, wenn er alles verspielt hat, endgültig loswerden, "was ich ohnehin nie besessen habe: eine Identität". Die zählt nämlich nicht zu dem allen, was zählt, und das ist der eigentliche Abgrund des Romans. (Der Spiegel. 32/2000)

Veranst. : Strömungen, Jüdische Gemeinde Marburg e. V. , Marburger Literaturforum e. V. , Rafael Seligmann mit freundlicher Unterstützung des Kulturamtes der Stadt Marburg und des Hessischen Kultusministeriums

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Patrick Roth

Die Nacht der Zeitlosen - Lesung aus der Reihe: Wozu Literatur?

2001 10 31

Roth, der in Karlsruhe geboren wurde, lebt heute in Los Angeles und arbeitet als Drehbuchautor, Filmjournalist und Schriftsteller. Seine Geschichten handeln oft von dem dort Erlebten, so auch "Die Nacht der Zeitlosen", das Roth selbst als "apokalyptisches Buch" bezeichnet. In den fünf Erzählungen habe er vor allem das große Erdbeben von Los Angeles vor sieben Jahren verarbeitet, das er hautnah miterleben mußte und es heute als "größte Katastrophe" bezeichnet, die er selbst je erlebt habe. "Die erste und die letzte Geschichte beschäftigen sich konkret mit dem Erdbeben, während die mittleren Geschichten nur im übertragenen Sinn damit zu tun haben", erklärte Roth. "Jede Erzählung hat mit der anderen zu tun. Wenn man genau hinsieht, kann man bemerken, wie die verschiedenen Charaktere eine Umschichtung der Schichten und damit ihr eigenes Erdbeben erleben. ""Das verräterische Herz" ist die erste Erzählung in Roths Buch und die einzige, deren Schauplatz Deutschland ist. Es handelt von einem 15-Jährigen, in die Geschichten von Edgar-Allan Poe vernarrten Jungen, der Leseunterricht in Englisch nehmen möchte. Für ihn überraschend meldet sich statt eines Mannes eine junge Frau: Gladice Templeton. Dieser Name geht ihm nicht aus dem Kopf. Er verfällt in erotische Träumereien über die Unbekannte und fiebert dem ersten Treffen entgegen, für das er sich die Lektüre von Edgar-Allan Poes "A Tell Tales Heart" (Das verräterische Herz) aussucht. Während ihrer ersten Begegnung gibt sich der Junge gänzlich seinen Träumereien hin und geht auch davon aus, daß die 25-jährige Gladice - je weiter sie mit der Geschichte Poes fortschreiten - ebenso leidenschaftlich für ihn empfindet. Seine Träume werden jedoch jäh enttäuscht, als er schon während der zweiten Unterrichtsstunde die Wahrheit erfahren muß. . . (Marburger Neue Zeitung, 02. 11. 2001)

Veranst. : Strömungen, Jüdische Gemeinde Marburg, Marburger Literaturforum

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Jochen Schmidt

Politische Brandstiftung

2002 10 31

"Es gab keine Toten. Und doch ist die Stadt zum Synonym für rassistische Gewalt geworden", schreibt der Marburger Fernseh-Journalist Jochen Schmidt in seinem Buch "Politische Brandstiftung. Warum im August 1992 in Rostock ein Ausländerwohnheim in Flammen aufging". Der Titel ist Programm: Schmidt stellt in seinem Buch eine erschreckende These auf: Die Eskalation in Rostock sei von der damals CDU geführten Bundesregierung und von der damaligen CDU-Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern geplant gewesen; Verletzte oder gar Tote habe man billigend in Kauf genommen. Der Grund: Die CDU habe eine Änderung des Grundgesetzes durchsetzen und die SPD zum Einlenken in der Asyldebatte zwingen wollen. Dass in dem brennenden Haus niemand gestorben ist, war nicht der Polizei zu verdanken. Die hielt sich wie die Feuerwehr auffallend zurück, überließ für Stunden dem Mob das Feld. Schmidt spricht von einem Pogrom. Jochen Schmidt, der in Marburg lebt und für das dritte hessische Fernsehprogramm berichtet, war am 24. August Augenzeuge und Opfer zugleich. Als Praktikant war er mit einem ZDF-Fernsehteam nach Rostock gefahren, um über die angekündigte "heiße Nacht" zu berichten. "Ich habe nicht draußen gestanden und auf das brennende Haus geschaut. Ich stand innen", erläutert er seine Perspektive:Zehn Jahre später hat er die Ereignisse in dieser Nacht so minutiös aufbereitet, wie es das Material zulässt. Und er ist erschrocken über seine Recherche-Ergebnisse wie über die Urteile, die erst vor wenigen Wochen verkündet wurden: "Wenn man sich die Urteile ansieht und bedenkt, dass der Vorsitzende Richter des Landgerichts den Prozess sechs Jahre verschleppt hat, dann fragt man sich schon: Was steckt eigentlich dahinter?" Das Landgericht Schwerin verhängte im Juni lediglich Bewährungsstrafen von 12 und zwei Mal 18 Monate gegen drei der 400 Angreifer wegen Mordversuchs und schwerer Brandstiftung. Sein Entsetzen hat Jochen Schmidt journalistisch verarbeitet: Er hat Indizien gesammelt und zu einem Mosaik zusammengesetzt, das seine These belegen soll: Obwohl eine "heiße Nacht" angekündigt war, war die Polizei weder personell noch logistisch auf einen Großeinsatz vorbereitet. Der einzige Funkkanal, der dem Einsatzleiter Jürgen Deckert zur Verfügung stand, war gestört. Material wurde nicht ausgegeben. Hundertschaften wurden nicht bereitgestellt. Verantwortliche waren nicht zu erreichen. Schmidts Liste ließe sich fortsetzen. "Ich glaube, ich werde politisch allein gelassen", zitiert Schmidt den überforderten Einsatzleiter Deckert, nachdem Mecklenburg-Vorpommerns Inneminister Lothar Kupfer und Rostocks Polizeidirektor Siegfried Kordus nach Hause fuhren, um die Hemden zu wechseln, so Schmidt. Immer wieder zitiert der Autor Experten, wie Otto Diederichs, Herausgeber der Schriftenreihe "Bürgerrechte und Polizei", die nicht glauben wollen, dass Lichtenhagen "lediglich eine Gemengelage aus Inkompetenz, menschlichem Versagen und mangelnder Ausrüstung gewesen sein soll". Auch der Marburger Politikwissenschaftler Professor Reinhard Kühnl fürchtet in seinem Nachwort zu dem oft persönlich gefärbten Sachbuch, "dass noch manche Leiche" hinter verschlossenen Türen liegen könnte, dass die Ereignisse "Teil eines strategischen Konzepts der Unionsparteien" waren, um das "im Grundgesetz ohne Einschränkung garantierte Asylrecht abzuschaffen". Könnte Schmidt seine These erhärten, Deutschland hätte sein Watergate. Jochen Schmidt. "Politische Brandstiftung. Warum in Rostock ein Ausländerwohnheim in Flammen aufging", Edition Ost, 220 Seiten, EUR 12,90. (Uwe Badouin, Oberhessische Presse, 10. 08. 2002)

Veranst. : Strömungen e. V, Buchhandlung Roter Stern

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Detlev Claussen

Theodor W. Adorno - Ein letztes Genie

2003 11 06

Theodor Wiesengrund Adorno ist eine herausragende Figur des 20. Jahrhunderts und der individuelle Punkt, in dem das "Jahrhundert der Extreme" sich exemplarisch verdichtet. So jedenfalls sieht es Soziologie-Professor und Adorne-Schüler Detlev Claussen, der in seiner im S. Fischer Verlag erschienenen Biographie den Philosophen als Künstler begreift, dessen weitgefächerte philosophischen, soziologischen und musikalischen Interessen und Erkenntnisse als Einheit zu verstehen sind. Im Gespräch mit Ralph Gehlen von der Buchhandlung Roter Stern ging es im Marburger Universitätsmuseum um sein viel gelobtes Buch, um Adorno und um noch viel mehr. Elegant hat Claussen die Klippe umschifft, über jemanden zu schreiben, der auf Grund der Erfahrungen in der Weimarer Republik so große Vorbehalte gegen dieses Genre hatte wie Adorno. Claussen bezieht nämlich seinen Lebensbericht durchgängig auf die Texte Adornos und lässt diese "hinter der ins Unendliche angewachsenen Sekundärliteratur wieder im Original hervortreten". Dies hat Exkurse zur Folge, zu den Freundschaften, die Adorno pflegte, zu Horkheimer und Benjamin etwa, Bloch und Alban Berg, und die für das "Zusammenkommen von menschlicher Produktivität unerlässlich waren", Exkurse auch ins jüdische Bürgertum um die Jahrhundertwende. Immer wieder gelingt es Claussen, Klischees, Mythen und Legenden, die sich seit Jahrzehnten um Adorno rankten, gegen den Strich zu bürsten. "Er war nicht das Kind aus reichem Hause, als das er gern hingestellt wurde; bei der Familie Wiesengrund war kein Vermögen vorhanden. Auch hat sich Adorno zeit seines Lebens gegen den Wunderkindverdacht gewehrt. Das Interesse seines Vaters galt der Opernwelt, und so hat er eher widerwillig den väterlichen Weinhandel übernommen. Und wenn das reiche Bürgertum jener Zeit wegfuhr, dann in die Schweiz - und nicht wie die Wiesengrunds nach Amorbach in den Odenwald. " Immer wieder ist Claussen bemüht, als Ergebnis seiner langjährigen Recherchen - "das Buch hat mich fünf Jahre gekostet" - Fehldeutungen richtig zu stellen: "Es gibt viel zu viele Images, die das wirkliche Bild Adornos zu überlagern drohen: Wer in seinen 'Minima Moralia' eine Abrechnung des Autors mit seinem amerikanischen Exil sieht, projiziert seinen eigenen Antiamerikanismus hinein. " Schließlich sei Adorno erst in Amerika zu Adorno geworden: "Dort hat er den Namen seiner Mutter angenommen, und von dort ist er als ein anderer zurückgekommen als, der, der gegangen ist. " In der Klischee-Abteilung zu verorten ist auch die Wirkungsgeschichte des gern zitierten Adorno-Satzes, wonach "nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben barbarisch ist". Claussen verweist darauf, dass der Zweite Teil des Zitats lautet: "und das frisst auch die Erkenntnis an, die eben dies ausspricht". "Das heißt, Auschwitz ist so fundamental für das Leben danach, dass alles davon berührt ist, was man vorher für normal gehalten hat. Dies gilt für die Lyrik wie für die Philosphie, und so muss alles sich fragen lassen, wozu es überhaupt noch da ist, ob es nicht belanglos ist. " Dass Adornos Vorlesungen, in denen Claussen Mitte der sechziger Jahre als Student in Frankfurt saß, ein "ambivalentes Vergnügen" waren, räumt er abschließend ein: "Adorno hatte sich brillant vorbereitet, und seine Vorlesungen waren großartig ausgewählt, aber für einen selbst war es bedrückend, wenn man angesichts solch gelungener Aufführungen daran dachte, dass man später ja auch einmal vor Studenten dozieren würde". (Guntram Lenz, Marburger Neue Zeitung, 08. 11. 2003)

Veranst. : Strömungen e. V, Marburger Literaturforum, Buchhandlung Roter Stern

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Mathias Altenburg

Ein allzu schönes Mädchen

2004 04 23

Der Krimi, sagt Mathias Altenburg, sei zwar nicht die bessere Literatur, aber der bessere Gesellschaftsroman. Unter dem Pseudonym Jan Seghers hat der Träger des Marburger Literaturpreises "Ein allzu schönes Mädchen" geschrieben. Den Krimi stellte er auf Einladung der Kulturinitiative Strömungen, des Marburger Literaturforums und der Buchhandlung Roter Stern im historischen Rathaussaal vor. Warum das Pseudonym, warum der Etikettenschwindel, wollten mehrere der gut 50 Zuhörer wissen. Es sei eine Frage, konterte der Autor, die ihm Autoren nie stellen würden. Zu bekannt sei denen das Gefühl, "mal die Klamotten wechseln zu müssen". Zumal, wenn einer sich zum ersten Mal das legere Hemd der Kriminalliteratur überstreift. Und dass es leger ist, daran ließen Altenburg und auch seine Lesung keinen Zweifel. Zum einen, weil er offen zugab, Literaturpreise weiterhin lieber für die unter seinem bürgerlichen Namen veröffentlichten Werke einzuheimsen: "Selbst im Literaturfeuilleton nehmen Thriller und Krimis zu viel Platz ein. Da sollte es lieber um Bücher gehen, die sich nicht von selbst verkaufen. " Zum anderen aber auch, weil auch das Gelesene allzu leger daherkam. Was insofern überrascht, weil Mathias Altenburg ein geistreicher Zeitgenosse ist und weil "Ein allzu schönes Mädchen" ein ziemlich gelungenes Kriminaldebut ist. Ein prickelndes, fesselndes Leseerlebnis, wenn man es einmal in die Hand genommen hat. Doch die Lesung machte auch deutlich, dass ein Krimi gelesen werden will. Daheim auf dem Sofa oder unter der Bettdecke. (Clemens Niedenthal, Oberhessische Presse, 26. 04. 2004)

Veranst. : Strömungen e. V, Marburger Literaturforum, Buchhandlung Roter Stern

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Hannes Heer

Vom Verschwinden der Täter - Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei

2004 05 04

Der Historiker Hannes Heer war an die Lahn gekommen, um sein jüngstes Buch "Vom Verschwinden der Täter - Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei" vorzustellen. In ihm analysiert Heer unter anderem anhand der Geschichte der Wehrmachtsausstellung, für deren erste Auflage er verantwortlich gezeichnet hatte, wie die Frage nach der Mitverantwortung deutscher Soldaten an den NS-Verbrechen privat und öffentlich ausgeblendet und die politische Debatte zunehmend verwässert wird. Herr zeigt im KFZ am Beispiel dreier "klassischer Manöver" auf, wie die Deutschen, die gerade begonnen hatten, zu begreifen, dass mit Begriffen wie Auschwitz und Treblinka das Ausmaß der Schuld nur unzureichend beschrieben war, sich mit einem Male in ein Volk von Opfern verwandelten. Indizien für das "Verschwinden der Täter" fand Heer schon im Wirken der Zensur bei Kriegsromanen von Heinrich Böll und Erich Maria Remarque, die von Lektoren umgeschrieben oder gar nicht veröffentlicht wurden. Ein weiteres Indiz war ihm der Wechsel vom Täter- zum Opferkollektiv, das sich, verführt etwas von der Demagogie Hitlers, einer Kette von Verfolgungen und Misshandlungen ausgesetzt sah. "Opfer zu sein ist komfortabel, wenn man nicht wirklich Opfer gewesen ist", meinte Heer im Hinblick auf Ernst Jüngers Umdeutung seines eigenen Tagebuchs von 1942. Ein drittes Argument war ihm die Verlegung des Mords an Juden an "extraterrestrische Schauplätze". "Von den Massenvernichtungslagern wollte man nichts gewusst haben, und die zwei Millionen ermordeter Juden in der Sowjetunion hat man sich nicht eingestehen wollen. " Nach Heers Worten schuf die "Politik der Amnestie und Amnesie", des Vergebens und Vergessens in der Adenauer-Zeit die Rahmenbedingungen für das "Verschwinden der Täter" im Bewusstsein der Deutschen: "Die Untaten im Krieg konnte man nicht leugnen, es gab nur keinen, der sie begangen hat. " Inzwischen, so Heers These, sind auch Nazi-Argument in der öffentlichen Debatte kein Tabu mehr, wenn etwa Historiker Juden die Schuld am eigenen Tod geben und diese von Politikern zum Tätervolk erklärt werden. Oder wenn, wie im Fall von Jörg Friedrichs Buch "Der Brand" über den britischen Luftkrieg auf deutsche Städte, das Martin Walser schwärmerisch "ein Epos" nannte, die Deutschen das gleiche Schicksal erlitten haben sollen wie die Juden und so der Holocaust relativiert und trivialisiert wird. "Friedrich macht den Bombenkrieg gegen die Deutschen zum Holocaust an den Deutschen, und er versucht, die Wehrmacht zu entschulden, indem er sie als Gefangene des Krieges und der ihm eigenen Gesetzmäßigkeiten zeigt. " In der anschließenden Diskussion, die von Daniel Hajdarovic moderiert wurde, ging es unter anderem um die Frage, was Bücher wie das Friedrichs mit einer Auflage von über einer halben Million Exemplaren zu Bestsellern macht. "Anziehend wirkt auf den Leser offenbar, dass es weniger um Wissenschaft als um Gefühle geht, um wohliges Leiden und Voyeurismus", meinte Heer - und auch um die Heilsbotschaft, "nicht nur wir, sondern auch die anderen waren die Bösen". (Guntram Lenz, Marburger Neue Zeitung, 07. 05. 2004)

Veranst. : Strömungen e. V. , Geschichtswerkstatt - AK Erinnerungskultur, Buchhandlung Roter Stern

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Kjetil Bjornstad

Villa Europa

2004 06 02

Bjornstad ist Komponist, Jazz-Musiker und Autor zugleich. Bislang veröffentlichte er 30 Alben und 20 Bücher, schuf also bald zwei Lebenswerke. Bjornstad ist äußerst agil und arbeitsam, dabei sympathisch und bescheiden. Er hält sich lieber im Hintergrund, verbeugt sich dutzende Male vor dem Publikum, das ihm nach der gelungenen Soiree lange applaudiert. 1952 geboren, lebt Bjornstad in Oslo. In Deutschland wurde er vor allem wegen seiner umfangreichen Biographien über Edward Grieg und den Maler Edvard Munch bekannt. Sprachmächtig und gewitzt erzählt er in seinem neuen Roman "Villa Europa" die Geschichte eine Familie, deren dramatisches Schicksal zugleich die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert ist. Die Hauptfigur Erik Ulven verschwindet eines Tages im Jahr 1892 von der Seite seiner reichen aber langweiligen Frau, um Europa zu entdecken. In sieben Jahren durchquert er diverse Länder, erleidet einen finanziellen Verlust nach dem anderen und lebt von dem Geld, das seine Frau ihm schickt. Als es ihn endlich zurück in die Heimat zieht, fällt seine Frau vor Freude tot um. Ralph Gehlen von der Buchhandlung Roter Stern las lebendig und kongenial aus der deutschen Übersetzung, doch die wirkliche Würze erhielt der Abend erst durch Bjornstads Spiel am Piano, ein harmonisches, äußerst kraftvolles Spiel mit sensibel eingesetzten Improvisationen um die atmosphärisch-dichten Kompositionen herum. (ahi, Marburger Neue Zeitung, 04. 06. 2004)

Veranst. : Strömungen e. V. , Jazzinitiative Marburg, Buchhandlung Roter Stern

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Heiner Goebbels, Klaus Walter

Kritische Masse: Das gesellschaftskritische Potenzial der (Pop-) Musik

2003 12 09

Wie gesellschaftskritisch kann Musik heutzutage noch sein? Dieser Frage gingen in Marburg Kultmoderator und Kritiker Klaus Walter (Hessischer Rundfunk: "Der Ball ist rund", "Schwarz-Weiß") und der Musiker, Komponist und Regisseur Heiner Goebbels in einer Podiumsdiskussion nach. Die Debatte im Theater neben dem Turm blieb, wie nicht anders zu erwarten, ohne eindeutiges Ergebnis. Der intellektuelle Pop-Theoretiker Klaus Walter wies anhand verschiedener Beispiele kritische Potenziale der Musik nach. Direkte Agitation im Pop sei jedoch zum Scheitern verurteilt, so seine These, denn sobald Pop politische Inhalte transportiere, verliere er seine Breitenwirksamkeit. Anhand des Songs "Shoot the Dog" von George Michael zeigte er, wie (amerika-) kritische Inhale aus dem Musikfernsehen verbannt und somit auch nicht in den Radios gespielt wurden. Die Bilder seien für den Pop dabei aber äußerst wichtig, denn Pop würde fast nur noch über Bilder transportiert und kaum noch über die Musik. So sei denn seiner Meinung nach nicht irgendein Song, sondern der Kuss zwischen Madonna und Britney Spears der "Pop-Höhepunkt" des Jahres 2003 gewesen. Der vielfach ausgezeichnete Heiner Goebbels sieht kritisches Potenzial der Musik vor allem in "materialästhetischen", also formalen Experimenten und Umstürzen: Mit dem Ensemble Modern aus Frankfurt erarbeitete er das "Eislermaterial", eine Aufführung, die die traditionellen Sitzordnungen und Spielweisen der Musiker und Sänger aufbricht. Der Umsturz funktioniert nur innerhalb des "Systems Musik" und bleibt ohne (politische) Außenwirkung. Eine rein ästhetische Revolution im Kleinen, die es jedoch immerhin zu einer Grammy-Nominierung und zu Auftritten in ganz Europa gebracht hat. Eine entscheidende Rolle bei seinen Aufführungen spiele das Publikum, so Goebbels, und natürlich kann Musik immer nur so kritisch sein wie das Publikum, das sie hört. (ahi, Marburger Neue Zeitung, 13. 12. 2003)

Veranst. : Strömungen e. V. , Café Trauma, Hessische Gesellschaft für Demokratie und Ökologie

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Maria Wismeth, Georg Seeßlen

Kritische Masse: Das gesellschaftskritische Potenzial des Films

2003 10 22

Was ist eigentlich Film, und wie kann Gesellschaftskritik in diesem Medium formuliert werden? Dies waren zwei zentrale Fragen, mit denen sich die Experten Georg Seeßlen und Maria Wismeth beschäftigten. Der renommierte Film- und Medienkritiker Seeßlen versuchte zu Beginn der Diskussionsrunde eine Kategorisierung der verschiedenen filmischen Formen vorzunehmen, in denen sich Gesellschaftskritik prinzipiell formulieren lässt. Hierbei nannte Seeßlen nebem dem populären Hollywood-Kino den sogenannten "Europäischen Film" sowie den "Kunstfilm", welcher sich größtenteils als vom Markt unabhängig präsentiere. Der Filmkritiker unterstrich jedoch, dass diese Kategorisierung noch nichts über das kritische Potenzial eines Filmes aussage. So könne zum Beispiel ein amerikanischer "Blockbuster" durchaus gesellschaftskritische Tendenzen beinhalten. Generell vertrat er die Meinung, dass Filme nicht zwangsläufig einen moralisierenden oder erzieherischen Aspekt beinhalten müssen, um eine gesellschaftskritische Wirkung erzielen zu können. Frei nach Kant, der es als Ziel ansah, den Menschen aus seiner unverschuldeten Unmündigkeit zu führen, erläuterte Seeßlen, dass es immer eine individuelle Reaktion des Menschen gebe, sobald sich diese auf einen Film einlasse. Dabei spiele es keine Rolle, ob besagte Auswirkung physischer oder intellektueller Natur sei. Ähnlich vage wie der Medienkritiker äußerte sich auch Maria Wismeth, Geschäftsführerin der Hessischen Filmförderung. Wismeth beschrieb die Auswahl der zu fördernden Filme als einen scheinbar subjektiven Prozess. Zudem sei dieser immer wieder davon beeinflusst, dass Filmemacher Filme zur Förderung einreichen, die sich im Konzept an gewissen, Erfolg versprechenden Schemata orientieren. Diese würden dann aber nach erfolgreicher Förderung nur selten umgesetzt. Seeßlen unterstrich diese Problematik, indem er forderte, statt Filmförderung künftig Filmkulturförderung zu betreiben. "Filmförderung ist für Filmemacher vergleichbar mit einer Droge. Einmal abhängig geworden, brauchen sie immer mehr davon und können doch ihr Level selten auf dem des anfänglichen Höhepunktes halten", so der Filmkritiker. Es sei daher sinnvoll, die Filmkultur als solche zu stärken und etwa Kinos, Ausbildungsberufe und Filmzeitschriften zu fördern. Die Schaffung von filmischen Zentren, die in Eigenständigkeit und Unabhängigkeit agieren könnten, wären ein Garant für die Qualität der Produktionen und somit auch für den gesellschaftkritischen Anspruch des Mediums. Einzig die Frage, was Gesellschaftskritik als Begriff eigentlich ausmacht, blieb in der ansonsten sehr ansprechenden und anregenden Veranstaltung unbeantwortet. Geht man davon aus, dass Gesellschaftskritik mit einer Art gesellschaftlicher Idealvorstellung verbunden ist, stellt sich zwangsläufig auch die Frage, ob jene Idealvorstellung ein nicht zu individueller Wert ist, um im Medium Film allgemeingültig abgehandelt zu werden. Seeßlen führte dazu jedoch an, dass es bei der Gesellschaftskritik nicht um die Vermittlung bestimmter Idealvorstellungen gehe, sondern darum, im Zuschauer eine individuelle Reaktion auszulösen. Wie diese im Einzelfall aussieht, so Seeßlen, hänge selbstverständlich immer vom Individuum selbst ab.

Veranst. : Strömungen e. V. , Café Trauma, Hessische Gesellschaft für Demokratie und Ökologie

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Frederik Hetmann

Reisender mit schwerem Gepäck. Die Lebensgeschichte des Walter Benjamin

2004 05 27

"Durchschaubar. Das war die Parole seines Lebens: Die Dinge durchschaubar machen. " Frederik Hetmann sagt dies über den Philosophen und Sprachwissenschaftler Walter Benjamin. Frederik Hetmann hat Benjamin ein lesenswertes Buch gewidmet: "Reisender mit schwerem Gepäck. Die Lebensgeschichte des Walter Benjamin". Am Donnerstag war der Literaturwissenschaftler Frederik Hetmann, vielen besser bekannt als Hans Christian Kirsch, in den Kulturladen KFZ gekommen, um vom Philosophen, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Benjamin zu erzählen. Denn ein Autor war der 1982 in Berlin geborene Benjamin in erster Linie. Einer, der Dinge intensiv in sich aufgesogen hat, um von ihnen zu berichten. Vielleicht kein Sozialwissenschaftler vor ihm hat den Alltag der Menschen so ernst genommen, wovon nicht nur sein Fragment gebliebenes "Passagenwerk" erzählt: Mit ihm wird Benjamin zum geistigen Flaneur durch das Paris jener Zeit. Benjamin selbst allerdings bewegte sich zeitlebens mehr auf Umwegen dann auf Flaneurmeilen. Mit einem letzten Umweg lässt Frederik Hetmann seine Erzählung beginnen: Auf der Flucht vor den anrückenden deutschen Truppen nimmt sich Walter Benjamin am 25. September 1940 an der spanisch-französischen Grenze das Leben. Der charmante Erzähler Hetmann wählte nun den Weg, das Wirken Benjamins eng mit dessen Lebensweg zu verknüpfen. Das mag nicht immer funktionieren, im Falle der verschlungenen Biografie Benjamins aber macht es Sinn. Oder, wie Hetmann Theodor W. Adorno zitierte: "Benjamin war nicht das Talent, das sich in der Stille bildet. Aber das Genie, das, verzweifelt gegen den Strom schwimmend, zu sich selbst kam. " Vor etwa 50 Zuhörern - die meisten darunter aus der Generation, die Benjamin um 1968 zurecht als Kultautoren wieder entdeckt haben - las Frederik Hetmann aus einem spannenden Buch. Spannend gerade für Einsteiger in die Lebens- und Gedankenwege des Philosophen Walter Benjamin. (Clemens Niedenthal, Oberhessische Presse, 29. 05. 2004)

Veranst. : Strömungen e. V. , Buchhandlung Roter Stern

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Patrick Roth

Starlite Terrace

2004 11 04

Auf Einladung des Marburger Literaturforums und des Vereins Strömungen stellt Roth, der vor drei Jahren schon einmal an der Lahn zu Gast war, sein Buch im vollbesetzten Haus der Romantik vor. Das Titel gebende "Starlite Terrace" ist ein altes Apartmentgebäude um einen beleuchteten Swimmingpool in Los Angeles, wie man es aus so manchem Kriminalfilm kennt, und die Hauptfiguren der Erzählungen sind vier seiner Bewohner. Roth weiß, wovon er spricht und erzählt, denn er selbst wohnte Jahre lang in einem solchen Apartmenthaus, dessen Bewohner eine verschworene Gemeinschaft bildeten, und mit dem Abriss des Gebäudes vor einem Jahr, mit der Trennung, "ging eine kleine Welt unter". In die Welt von Roths "Helden", von Rex und Moss, Gary und June bricht das Unerwartete ein und verwandelt die Wirklichkeit auf seltsam eigene Weise. So kündigt Rex den "Tod des Königs" und das Ende unserer Zeit an, während der christliche Fundamentalist Gary einen Weg aus persönlicher Schuld sucht. In "Sonnenfinsternis", der Erzählung, die Roth in Marburg vorstellte, erwartet Moss McCloud, der in Angst vor dem nächsten Holocaust lebt, den Besuch seiner Tochter, die vier Jahre zuvor in New York entführt wurde und deren Spur er bis nach Los Angeles verfolgte. Gute 30 Seiten ist die Erzählung lang, in der Roth ein Bild von der Welt entwirft, in dem Biografie, Filmstil und apokalyptische Vision einander durchdringen. Dass der Autor auch als Drehbuchschreiber und Regisseur in Los Angeles tätig ist, kommt seinen Erzählungen zugute, und seine Lesung, die Art des Vortrags war so packend, dass die Zuhörer fast anderthalb Stunden lang gebannt an den Lippen des Vorlesers hingen. (Guntram Lenz, Marburger Neue Zeitung, 06.11.2004)

Veranst. : Strömungen e.V., Marburger Literaturforum, Buchhandlung Roter Stern

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Roger Willemsen

Zum 35. Geburtstag der Buchhandlung Roter Stern: Eine literarische Zeitreise

2004 11 12

Ein blinder Bettler sitzt auf einer Brücke und hält lange vergeblich die Hand auf. Ein Dichter, des Weges kommend, bekennt: "Ich bin Dichter, ich habe selbst kein Geld." Stattdessen aber hat er eine Idee, beschreibt ein Schild und drückt es dem Bettler in die Hand. Dieser hält es hoch, und plötzlich rollt der Rubel. Erfreut wundert sich der Bettler und fragt den Dichter, was er wohl auf das Schild geschrieben habe. "Der Frühling wird kommen, aber ich werde ihn nicht sehen", antwortet dieser. Mit dieser kleinen Skizze des französischen Philosophen und Surrealisten Roger Caillos brachte Roger Willemsen am Freitagabend auf den Punkt, was Literatur zu leisten vermag: Sie kann die Welt erfahrbar machen und so günstigenfalls auch die Lebenspraxis verändern, und oft braucht sie dazu nur wenige Wörter, wie der Dramatiker Franz Grillparzer, der, als er erstmals des Meeres ansichtig wurde, nur in sein Tagebuch schrieb: "So hatte ich's mir nicht vorgestellt." Nach zwei ausverkauften Veranstaltungen mit Willemsen im Vorjahr in Marburg, einer Lesung aus seiner "Deutschlandreise" und einer Einführung in die Welt des Jazz, war der Autor und Moderator diesmal nicht an die Lahn gekommen, um sein jüngstes Buch "Gute Tage - Begegnungen mit Menschen und Orten" (S. Fischer Verlag) vorzustellen, das es durchaus verdient gehabt hätte, sondern als Geburtstagsgeschenk. Die Waggonhalle und der Verein Strömungen hatten ihn als Präsent für die Macher des "Roten Stern" eingeladen, die an diesem Wochenende den 35. Geburtstag der Buchhandlung und des Antiquariats feierten, und so für eine Stern-Stunde gesorgt. Seitens Strömungen dankte zunächst Cerstin Gerecht (Kiel) für die langjährige kreative Zusammenarbeit sowie das Engagement und die Unterstützung bei vielen Kulturprojekten, ehe auch Willemsen "aus tiefstem roten Herzen" gratulierte und ankündigte, statt der avisierten "literarischen Zeitreise" zeigen zu wollen, warum es Literatur geben muss und was sie leistet. Das tat er dann in den folgenden anderthalb Stunden, und die Zuhöhrer im ausverkauften Saal erlebten einen rhetorisch brillanten Intellektuellen, der sich an eine Maxime hielt, die nur wenige befolgen: ein Essay sollte so sein wie ein Minirock - lang genug, um alles Wesentliche abzudecken, und kurz genug, um noch Interesse zu wecken. Für die vielen, die keine Karte mehr bekommen hatten, und alle anderen Literaturfreunde bleibt die Hoffnung, dass es diesen Abend mal auf CD oder wenigstens verschriftet geben möge. Der Wiener Caféhausliterat Peter Altenberg und französische Rokoko-Vielschreiber Nicolas Restif de la Bretonne, der ungarische Filmhistoriker Béla Balasz und der Dramatiker Henrik Ibsen, sie und viele andere dienten Willemsen als Kronzeugen und, natürlich, der "verehrungswürdige" Samuel Beckett, der sein Nobelpreisgeld darauf verwandte, eine rote Lampe an seinem Telefon anbringen zu lassen, um nicht mehr gestört zu werden, und schrieb, "um einen Fleck auf dem Schweigen zu hinterlassen". Friedrich Hebbel, der Dramatiker aus Wesselburen, und seine Tagebücher waren Willemsen Beleg für seine These, dass "literarische Produktivität verschwistert ist mit Abwehr und Hass". Denn nachdem Hebbel, der in seinen ersten beiden grandiosen Tagebüchern seinen Weltekel auf höchstem literarischen Niveau förmlich herausgekotzt hatte, verheiratet, erfolgreich und saturiert war, verbreitete er im dritten Tagebuch nur noch gähnende Langeweile. Literatur, die diesen Namen verdient, spricht nach Willemsen nicht nur von dem, was sein könnte. Sie antwortet auf die Erfahrung des Mangels, die ihr Antriebskraft ist, oder, um es mit Adorno zu sagen, der Hegel missverstand, als er zu Recht postulierte: "Kunst ist Bewusstsein von Nöten". Dass Literatur und Kultur allgemein auch Überforderung sein kann, sein muss, wusste schon Benn, als er formulierte "'Penthesilea' wäre nie geschrieben worden, wenn vorher darüber abgestimmt worden wäre". In diesem Sinne schloss Willemsen mit Friedrich Hölderlin und seinem "Jüngling an die klugen Rathgeber", und danach konnte auch wirklich nichts mehr kommen: "Umsonst! mich hält die dürre Zeit vergebens, / Und mein Jahrhundert ist mir Züchtigung; / Ich sehne mich in's grüne Feld des Lebens / Und in den Himmel der Begeisterung". (Guntram Lenz, Marburger Neue Zeitung, 16.11.2004)

Veranst. : Strömungen e.V., Waggonhalle

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Erasmus Schöfer

Reisender mit schwerem Gepäck. Die Lebensgeschichte des Walter Benjamin

2004 11 24

Im Café am Grün las Erasmus Schöfer am Mittwochabend aus seinem Buch "Zwielicht", dem zweiten Teil seiner Tetralogie "Die Kinder des Sisyphos". Die ersten paar Minuten gab man Erasumus Schöfer Gelegenheit, seiner eigenen Biographie zu lauschen, die von Emeritus Günter Giesenfeld vorgetragen wurde, der auch die Moderation des Abends übernahm. Mit größtenteil unbewegter Miene verfolgte das Urgestein der linken Literaturszene seinen Werdegang, bei der einen oder anderen Anekdote von damals ließ er sich zu einem Lachen hinreißen. Vor dem kleinen Kreis, der zur vom Marburger Literaturforum, Strömungen und dem Buchladen Roter Stern veranstalteten Lesung erschienen war, begann Erasmus Schöfer dann, aus seinem neuen Werk "Zwielicht" zu lesen. Der Titel steht programmatisch für die 70er Jahre in der Bundesrepublik, von denen das Buch handelt. Mit beeindruckendem Sinn fürs Detail beschreibt Schöfer eine Fülle authentischer Situationen jener Zeit. Er selbst sagte zu seinen Absichten: "Ich wollte die Wahrheit der Menschen aufheben, die damals gehandelt haben." Nachdem Schöfer das Buch zugeklappt hat, kam es nach kurzem Zögern zu einer Diskussion über die historische Bedeutung der Achtundsechzgiger. Ein Gast stellte die Frage, ob diese Zeit historisch überhaupt so wichtig war, dass sie ein literarisches Denkmal verdiene. Erasmus Schöfer interessierte sich jedoch besonders für die jüngere Generation und erkundete sich bei deren Vertretern, was Menschen, die diese Zeit selbst nicht erlebt haben, aus seinem Werk ziehen könnten. Schließlich stellte er in Anspielung auf die recht unterkühlten Räume fest: "Vielleicht ist es ja einfach zu kalt hier drin für heiße Diskussionen." (Simon Rohling, Oberhessische Presse, 29.11.2004)

Veranst. : Strömungen e.V., Marburger Literaturforum, Buchhandlung Roter Stern

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Götz Aly

Hitziger Streit über "Gefälligkeitsdiktatur"

2005 06 06

Der Verein Strömungen beweist einen guten „Riecher“ für spannende Themen. Für Montag hat er gemeinsam mit der Geschichtswerkstatt und der Buchhandlung Roter Stern den Historiker Götz Aly eingeladen, der die Historiker-Zunft mit seinem Buch „Hitlers Volksstaat – Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus“ in Aufruhr versetzte. Aly gilt als das „Enfant terrible“ der deutschen Geschichtsforschung. Kaum war das Buch im März im S. Fischer-Verlag erschienen wurde es in allen großen Medien kontrovers diskutiert. Die Folge: Inzwischen ist bereits die vierte Auflage auf dem Markt. Mit seiner These, dass sich die „Gefälligkeitsdiktatur“ der Nazis die Zustimmung der Massen mit sozialpolitischen Wohltaten erkaufte, die wiederum durch die Ausplünderung der Juden und anderer Völker finanziert wurden, hat Aly eine hitzige Debatte losgetreten. Zum 60. Jahrestag des Kriegsendes scheint er einen empfindlichen Nerv getroffen zu haben – vor allem auch deshalb, weil er noch heute geltende sozialstaatliche Errungenschaften auf die Raubzugspolitik der Nazis zurückführt. Anfang April trafen die Kontrahenten in dieser Kontroverse – alles große Namen der deutschen Geschichtsforschung – vor mehr als 500 Zuhörern an der Universität Frankfurt aufeinander. Der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler, der als schärfster Kritiker Alys gilt, hält dessen Erklärungsmuster für „anachronistischen Materialismus“. Der NS-Staat könne nicht durch die „Raubsucht und Habgier“ seiner Menschen erklärt werden, kritisierte Wehler. Alys Buch vernachlässige den „radikalen Antisemitismus“ der NS-Eliten sowie die charismatische Persönlichkeit Hitlers mit dem daraus resultierenden Führerkult. Aly dagegen betonte, dass die gesamte deutsche Bevölkerung von der Enteignung und Ermordung der Juden und dem Raubzug in den besetzten Gebieten direkt profitiert habe. Mit Sozialleistungen wie der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung für Rentner, den Sonn- und Feiertagszuschlägen oder dem Ehegattensplitting habe Hitler die Bevölkerung quasi per „Massenbestechung“ in das System integriert. Auch die deutschen Soldaten seien „glänzend“ bezahlt worden – und dies stets aus den Kassen der besetzten Länder. Das NS-Regime sei in der Sozialpolitik „effizienter gewesen als jede sozialdemokratische Regierung in der Nachkriegszeit“, urteilte Aly, derzeit Gastprofessor am Fritz-Bauer-Institut zur Erforschung des Holocaust in Frankfurt. Während Wehler eine ökonomische Begründung der Judenvernichtung für abwegig hält, findet Alys These Zustimmung bei dem Bochumer Historiker Hans Mommsen. Wirtschaftliche Motive seien im NS-Staat eine „Schubkraft“ gewesen, um die Schraube bei der Verfolgung und Vernichtung der Juden immer weiter anzudrehen. Das große Echo auf sein Buch erklärt Aly auch damit, dass es zu erklären versuche, wieso so viele Deutsche bis zum Untergang positive Erfahrungen mit dem NS-Regime verknüpften. Ende April konterte der in Cambridge lehrende Wirtschaftshistoriker Adam Tooze in der „Zeit“ die Thesen Alys: Sie führten in die Irre, meint Tooze. Aly zeichne die Deutschen als „gefährliche kleine Materialisten“, dies sei bloße Moralkritik. Tooze führt die Zustimmung zum NS-Regime auf den rasanten Aufstieg Amerikas zurück. Das „Dritte Reich“sei keine „Gefälligkeitsdiktatur“ sondern eine „Mobilisierungsdiktatur“ gewesen, Aufrüstung die Antwort der Nationalsozialisten auf den „american way of life“. Der Nazi-Staat habe weniger zurückgegeben als er genommen habe, den Reichtum in die Rüstungsmaschinerie gesteckt. (Uwe Badouin und Thomas Maier, Oberhessische Presse, 03.06.2005)

Veranst.: Geschichtswerkstatt Marburg e.V., Strömungen e.V., Buchhandlung Roter Stern

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Wolfgang Leonhard

Die gegenwärtigen deutsch-russischen Beziehungen

2005 06 14

Rund 120 Zuhörer kamen am Dienstagabend ins Sorathotel, um den ausgewiesenen Russlandkenner und Autor des autobiographischen politischen Bestsellers "Die Revolution entlässt ihre Kinder" (1955) zu hören. Obgleich das eigentliche Thema seines Vortrages die deutsch-russischen Beziehungen waren, sprach der 84-Jährige Wolfgang Leonhard hauptsächlich über die diktatorischen Entwicklungen in Russland unter Präsident Wladimir Putin. Professor Dr. Wolfgang Leonhard beantwortete im Anschluss an seinen Vortrag Fragen zu Russland und zu den deutsch-russischen Beziehungen. Der Marburger Professor Dr. Wilfried von Bredow leitete die Diskussion. Nach einer vorangegangen Analyse der Entwicklung der UdSSR und Russlands seit der Revolution 1917 sagte Leonhard: "1999 kam die seit Anfang der neunziger Jahre begonnene Demokratisierung Russlands zum Stillstand." Zu diesem Zeitpunkt habe der amtierende Präsident Boris Jelzin seinen Nachfolger quasi "bestimmt" - Wladimir Putin. Dieser ist zunächst zum Ministerpräsidenten ernannt worden, im Jahr 2000 wählte ihn das russische Volk zum Staatspräsidenten. Die von da an einsetzende "Putin-Ära" sei einerseits durch einen wirtschaftlichen Aufschwung gekennzeichnet, vor allem durch den Preisanstieg bei Erdöl und Erdgas, mit denen Russland mehr als reich gesegnet sei. Andererseits habe es der "gebildete Diktator" Putin verstanden, so Leonhard, die Kontrolle des Staates über wichtige Gesellschaftsbereiche erheblich auszuweiten. So seien unliebsame politische Gegner aus dem Weg geräumt worden - zuletzt der Öl-Großunternehmer Michail Chodorkowski. Die unabhängigen, kritischen Medien seien durch zumeist rechtliche Tricks ausgeschaltet worden, so dass es nur noch drei große, staatlich kontrollierte Fernsehsender gebe. Dennoch verstehe es Putin, so Leonhard, in der Gesellschaft gewisse Freiräume zu lassen, in denen der Staat Kritik erlaube. Dieses sei er nicht zuletzt den außenpolitischen Beziehungen, auch zu Deutschland, schuldig. Der Deutsch-sowjetische Vertrag von 1990 sei trotz aller Kritikpunkte immer noch wichtigste Grundlage für die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und dem heutigen Russland, so Leonhard. Gleichzeitig sieht er zumindest die Möglichkeit, dass sich längerfristig eine demokratische, liberale Opposition durchsetzen könnte, die vor allem durch den wachsenden russischen Mittelstand sowie insbesondere auch durch die jungen Menschen angeführt werden könnte. Leonhard erwies sich bei seinem Vortrag als fundierter Sachkenner, den seine eigene Biographie bereits zwischen 1935 und 1945 erstmals in die Sowjetunion brachte. Dennoch wirkte Leonhards Vortrag an vielen Stellen eher beiläufig und die von ihm beschriebenen Entwicklungen in Russland klangen allzu harmlos. Mehrmals betonte er deutlich den diktatorischen Charakter des Putin-Regimes; die Art und Weise, wie er die Details dazu erläuterte, schien dieser Diktatur teilweise unangemessen. Dennoch bekräftigte er seine tiefe Hoffnung, dass es langfristig zu Veränderungen in Richtung eines Rechtsstaats und hin zu mehr Demokratie kommen werde. (Jan Opielka, Marburger Neue Zeitung, 16.06.2005)

Strömungen e.V., Buchhandlung Roter Stern, Mediakontakt Laumer, mit freundlicher Unterstützung des Sorat Hotels Marburg

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